Töten? Nein, töten soll die deutsche Flüchtlingspolitik nicht, natürlich nicht. Human soll sie schon irgendwie sein, aber gleichzeitig muss ja auch immer klar sein: Es können nicht alle kommen. Sie soll also schon abschotten, die Flüchtlingspolitik. Abschotten, ohne dass deshalb gleich einer sterben muss.
Leider zeigt die aktuelle Entwicklung im Mittelmeer, dass es keine humane Politik der Abschottunggibt. Dabei funktioniert sie durchaus, die Abschottung. Die Migration nahm in Deutschland deutlich ab – insbesondere die Fluchtmigration –, zeigt ein aktueller Bericht der Bundesregierung. Während 2016 noch 722.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt hatten, waren es 2017 nur noch 198.000, 2018 dann nur noch 185.000.
Die Diskussionen während der Jahre dieses enormen Rückgangs zeigen, wie weit Realität und Diskurs auseinander liegen. Im Mai 2017 wurde das Asylgesetz verschärft. Die mögliche Dauer der Abschiebehaft wurde verlängert, Flüchtlinge dürfen seither bis zu zwei Jahren in der Erstaufnahmeeinrichtung gehalten werden, die Residenzpflicht wurde wieder eingeführt. Aber auch 2018, im Jahr nach dem großen Rückgang der Migration, war die Begrenzung der Migration Thema Nummer eins. Wir erinnern uns: Seehofer ließ an der Frage der Grenzabschottung beinahe die Koalition platzen. Was wurde diskutiert über „Fiktion der Einreise“, über Transitzentren direkt an der Grenze – in Bayern wurde sogar eine eigene Grenzpolizei eingeführt. Mit welchem Ergebnis? In einem halben Jahr kontrollierte sie 196 Menschen direkt an der deutsch-österreichischen Grenze und fand dabei nur 15 Personen, die illegal eingereist waren. Übrigens: Die „Obergrenze“ für Geflüchtete von 180.000 bis 220.000 Geflüchteten jährlich, mit der Seehofer den Koalitionspartner SPD und mit ihr die ganze Republik im Sommer 2018 genervt hat, wurde schon 2017 längst unterschritten.
Mit anderen Worten: Das war alles Quatsch. Wir hätten uns diese ganze Debatte darüber sparen können, wie die Politik es schafft, dass „nicht alle kommen“. Weil längst nicht mehr viele Geflüchtete kommen – weil sie schon vorher abgefangen werden. Die Abschottung wirkt. Der Deal mit der Türkei blockiert die eine Fluchtroute, die ausbleibende Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer blockiert die andere. Und wer es doch durch Europa nach Deutschland schafft, wird dank Dublin-Regelung „erfolgreich“ wieder abgeschoben. Das Bamf schob 2018 so viele Geflüchtete wie nie zuvor in andere EU-Staaten ab. Von Januar bis November waren es laut Angaben des Bundesinnenministeriums insgesamt 8658 Menschen.
Die Menschen werden kommen
All diese Mechanismen „funktionieren“ also. Und zwar nicht erst aufgrund der Asylrechtsverschärfungen, die in den vergangenen zwei Jahren verabschiedet wurden, sondern schon bevor diese Verschärfungen überhaupt beschlossen wurden. Man sollte sich jedoch genauer anschauen, was „funktionieren“ in diesem Fall heißt. Es heißt, dass rund vier Millionen syrische Flüchtlinge in menschenunwürdigen Lagern in der Türkei festsitzen. Die Türkei hat inzwischen dreimal so viele Geflüchtete aufgenommen wie Europa.
Abschottung heißt auch, dass Tausende Geflüchtete jährlich im Mittelmeer ertrinken, wenn sie nicht von der libyschen Küstenwache gerettet werden, die sie in libysche Lager zurück bringt, wo diese Menschen jahrelang eingesperrt und gefoltert werden. Dass die „libysche Küstenwache“, deren Name bei einem nicht existierenden Staat wie Libyen schon ein Euphemismus ist, nicht immer rettet, sondern auch hier und da Menschen ertrinken lässt, ist bekannt. Die EU lässt trotzdem Gelder in die „Ausbildung“ dieser „Küstenwache“ fließen, weil diese Praxis ja „wirkt“ – ob Ertrinken oder Folterlager, es kommen halt weniger.
Abschottung heißt auch, dass sämtliche Flüchtlingspolitik in Europa am Ende vom türkischen Präsidenten Erdogan und Italiens Innenminister Salvini bestimmt wird. Man will die Türkei nicht zu stark für ihre autoritäre und antikurdische Politik im In- wie im Ausland kritisieren oder gar unter Druck setzen, weil man den Flüchtlingsdeal nicht gefährden will. Man stellt die deutsche Unterstützung der Mission Sophia im Mittelmeer ein, weil Italien keine Geretteten mehr aufnehmen will und man nicht weiß, wo man sie sonst hinbringen soll. Deutsche Marinesoldaten retteten seit Mai 2015 im Rahmen der Mission etwa 22.500 Menschen im Mittelmeer. Der „Erfolg“ des italienischen und auch des deutschen Rechtspopulismus ist: In den kommenden Jahren werden diese Menschen eben nicht mehr gerettet. 170 Flüchtende sind vor wenigen Tagen im Mittelmeer ertrunken, weil der Abschottungsmechanismus - Italien sagt Libyen Bescheid, Libyen rettet nicht - die Seenotrettung "erfolgreich" durch eine absurde Form von Bummelstreik lahm legt. Die „Zeit“ empörte 2018 mit der Frage, ob man die Seenotrettung auch lassen könne. Die Wahrheit ist: „Wir“ lassen sie längst.
Natürlich, der Rückgang der Migrationszahlen in Deutschland liegt nicht nur an der Abschottung. Er liegt auch daran, dass die meisten Geflüchteten aus Syrien bereits 2015 und 2016 in Europa ankamen. Das kann sich aber schnell ändern – mit der nächsten Klimakatastrophe zum Beispiel.
Die Menschen hören ganz offensichtlich nicht auf, nach Europa zu kommen, nur weil die deutsche Marine nicht mehr retten und die deutsche Innenpolitik mehr abschieben will. Sie kommen trotzdem, und sie sterben im Meer oder werden in Libyen gefoltert. Oder sie schaffen es bis nach Europa – und werden wieder abgeschoben. Migration lässt sich nicht aufhalten. Sie lässt sich aber bekämpfen – nicht human, sondern kriegerisch. Wie soll man es sonst nennen, wenn eine Politik den Tod von Tausenden Menschenleben zur Folge hat? "Das Migrationsgeschehen wird uns noch jahrelang begleiten", da hat Seehofer mal Recht. Es wäre an der Zeit, einen nachhaltigen und humanen Umgang mit Migration zu finden. Abschottung ist es nicht.
Kommentare 7
Slavoj Žižek hat dazu sehr gute Essays ("Blasphemische Gedanken - Islam und Moderne"; "Ein Plädoyer für die Intoleranz") geschrieben. In "Der neue Klassenkampf - Die wahren Gründe für Flucht und Terror" kann man folgendes lesen:
»Was also soll man mit den Hunderttausenden verzweifelten Menschen tun, die sich im Norden Afrikas oder an den Küsten Syriens sammeln, um endlich Krieg und Hunger zu entfliehen; die versuchen, das Meer zu überqueren, um in Europa Zuflucht und Asyl zu finden? Darauf gibt es gemeinhin zwei Antworten, die beide als Varianten ideologischer Erpressung erscheinen, da sie bei uns, den Adressaten, irreparable Schuldgefühle wecken. Die Linksliberalen fragen empört, wie Europa es zulassen kann, dass Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken - sie plädieren dafür, dass Europa sich solidarisch zeigen und seine Türen weit aufmachen solle. Populistische Einwanderungsgegner indes fordern dazu auf, die europäische Lebensweise zu schützen, und sind der Meinung, Afrikaner und Araber sollten ihre Probleme selbst lösen. Beide Lösungen sind schlecht, aber welche ist schlechter? Um Stalin zu paraphrasieren: Sie sind beide schlechter.
Die größten Heuchler sind fraglos diejenigen, die offene Grenzen fordern: Insgeheim wissen sie, dass es dazu nie kommen wird, weil dies sofort eine populistische Revolte in Europa zur Folge hätte. Sie inszenieren sich als schöne Seelen, die über der korrumpierten Welt stehen, aber letztlich wissen sie ganz genau, dass sie selber Teil davon sind.
Der Grund, warum Appelle an unser Mitgefühl, das wir für die armen Flüchtlinge, die nach Europa strömen, aufbringen sollen, alleine nicht genügen, wurde schon vor einem Jahrhundert von Oscar Wilde formuliert. In den einleitenden Worten zu seinem Essay "Der Sozialismus und die Seele des Menschen" hebt er hervor: »Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken.«
Sie sehen sich von scheußlicher Armut, scheußlicher Hässlichkeit, scheußlichem Hungerleben umgeben. Es ist unvermeidlich, dass ihr Gefühl durch all das stark erregt wird. Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand (...). Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falsch gerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit. Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen am Leben halten, oder - das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung - dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen. Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert.
Mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingssituation bedeutet dies, dass es unsere wahre Bestrebung sein sollte, die Basis der Gesellschaft weltweit so umzugestalten, dass keine verzweifelten Flüchtlinge mehr auf diesen Weg gezwungen werden. Die Zurschaustellung altruistischer Tugenden hingegen verhindert letztlich die Umsetzung dieses Ziels.«
Patrick Cockburn schreibt im Independent: »Präsident de Gaulle sagte einmal, dass "der häufigste Fehler aller Staatsmänner darin besteht, fest daran zu glauben, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt eine Lösung für jedes Problem gibt. Es gibt in einigen Perioden Probleme, für die es keine Lösung gibt."«
Sie schreiben zu Recht, es wäre an der Zeit, einen nachhaltigen und humanen Umgang mit Migration zu finden. Höchste Zeit. Aber welche Lösungsvorschläge haben Sie?
Wie vermessen, muss man sein, um zu glauben, man könne die Fluchtgründe
beseitigen?? Zumal die wichtigste Fluchtursache die Handelspolitik der
heiligen Kuh EU ist! Wer der EU huldigt, hängt mit drin bei den Fluchtursachen.
EU-Anhänger sind menschgewordene Fluchtursachen!
Wer ehrlich Fluchtursachen bekämpfen will, muss die EU abschaffen.
Wie kann man so schizophren sein, und sich an die EU klammern, aber
die Augen davor verschliessen, daß die EU der Verursacher der Flucht ist?
Wer Fluchtursachen, Ausbeutung und Abschottung beklagt,
der darf über die EU als Ursprung dessen nicht schweigen!
Flüchtlingskrise oder Humanitätskrise? Die Werte der Europäischen Union versinken im Mittelmehr.
Unten im Hafen setzen sie die Segel
Fahren hinaus aufs offene Meer
Zum Abschied winken ihre Familien
Schauen ihnen noch lange hinterher
Und das Wasser liegt wie ein Spiegel
Als sie schweigend durchs Dunkel ziehen
Kaum fünfzig Meilen bis zum Ziel
Das so nah vor ihnen liegt
Sag mir, dass das nur ein Märchen ist
Mit Happy End für alle Leute
Und wenn sie nicht gestorben sind
Leben sie noch heute
Sie kommen zu Tausenden, doch die Allermeisten
Werden das gelobte Land niemals erreichen
Denn die Patrouillen werden sie aufgreifen
Um sie in unserem Auftrag zu deportieren
Und der Rest, der wird ersaufen
Im Massengrab vom Mittelmeer
Weil das hier alles kein Märchen ist
Kein Happy End für all die Leute
Und wenn sie nicht gestorben sind
Sterben sie noch heute
https://www.youtube.com/watch?v=GiZ0hEB1Xzw&vl=de
Was sind die wichtigsten Werte der Europäischen Union?
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die UNTEILBAREN und UNIVERSÄLEN Werte der WÜRDE DES MENSCHEN, der Freiheit, der Gleichheit und der SOLIDARITÄT.
http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf
@HaikoderAnwalt
Die französische Bourgeoisie ist eben ein erbämlicher Haufen.
Man denke nur an Strauss-Kahn.
Macron ist doch auch nur eine Sahneschnitte für die spätrömisch-dekadente
Oberschicht.
Den Grund allen Übels immer nur bei der EU zu suchen, ist aber sehr einfach gedacht. Das ähnelt dann schon den platten Argumenten der AfD.
Wenn die EU nach Ihrer Lesart ja an allem schuld sein soll, warum wollen dann diese vielen Menschen unbedingt dorthin. Das wäre ja so, als wenn ein Schwein (diese Tiere sind intelligenter als von vielen angenommen) ganz bewusst den Metzger aufsucht.
Warum gibt denn von den befragten in den Booten keiner Russland, die Ukraine oder Israel als Ziel an?
Was würde denn passieren, wenn diese ganzen sozialen Köstlichkeiten (Kindergeld, Bafög, Arbeitslosengeld, Hartz etc endlich mal abgeschafft, oder an extrem hohe Bedingungen geknüpft würden? Wäre die EU dann immer noch das Wunschziel?
Wie kann ich als Mann/Frau in Nigeria oder Somalia nur daran denken, noch ein weiteres Kind in die Welt zu setzen, wenn ich doch täglich erlebe, das es für die vorhandenen nicht mehr zum Leben reicht und der gesellschaftliche Status durch die vielen Kinder mich auch nicht vor dem verhungern retten wird?
Und wie KNYC66 möchte auch ich von der Autorin doch einmal gerne wissen, wie die Integration oder einfach nur das Zusammenleben denn gelingen soll. Wer übernimmt denn die Verantwortung, Betreuung und Kosten, bis ein solches Verfahren abgeschlossen ist?
..“.dass rund vier Millionen syrische Flüchtlinge in menschenunwürdigen Lagern in der Türkei festsitzen“
Bitte machen Sie da einen Faktencheck, nie und nimmer sitzen so viele in Lagern.