Jan Hieber zählt gern: 3.286 Strafverfahren. 1.060 Ermittlungsverfahren. 120 Durchsuchungsbeschlüsse. 500 Fahndungen. Alles seit dem G20-Protest vor einem Jahr. Hieber ist Leiter der „SoKo Schwarzer Block“, über deren Arbeit berichtet er jetzt im G20-Sonderausschuss der Hamburgerischen Bürgerschaft. Von hinten ist im schummrigen Licht des Rathauses kaum zu erkennen, dass er gerade spricht – sein Kopf bleibt reglos, sein perfekt ausrasierter Nacken strafft sich bei jeder Zahl nur ganz leicht, vor Stolz. Wer Hieber von vorn zu sehen bekommt, wie die Abgeordneten, kann sehen, dass sein Bart über dem gebräunten Gesicht ebenso perfekt ausrasiert ist wie sein Nacken, dass auch auf seinem Kopf jedes Haar genau am richtigen Platz liegt, und dass der Polizist gern seine Lippen zusammenkneift, die Stirn runzelt, leicht von unten emporblickt und sagt: „Das ist erstmalig in Deutschland.“
Jan Hiebers ganze SoKo ist von erstmaligem Ausmaß. Zeitweise 170 Polizisten arbeiten sich durch ein gigantisches Datenmaterial von 100 Terabyte, um noch unbekannte Tatverdächtige der Krawalle zu ermitteln, die es während der Proteste gegen den G20-Gipfel am 7. und 8. Juli 2017 gab. Die Beamten durchforsten Videos von öffentlichen Überwachungskameras in U-Bahnen wie auf der Straße, sie durchforsten Handy-Videos, die ihnen Zeugen zugeschickt haben. „Wir sind inzwischen in der Lage, uns die Situationen aus den unterschiedlichsten Blickrichtungen anzuschauen“, berichtet Hieber, und wieder strafft sich stolz sein Nacken. Es sei noch ein Dunkelfeld da, aber die SoKo setze die Puzzleteilchen langsam zusammen. Stück für Stück – wir kriegen sie alle, ist seine Botschaft. „104 Personen konnten wir, auch durch die Öffentlichkeitsfahndung, bislang identifizieren“, sagt er.
Wen die CDU am liebsten kriegen würde, macht sie in jeder Sitzung seit Konstituierung des Ausschusses im August deutlich: die Rote Flora. „Kriegt ihr den Blechschmidt wirklich nicht?“, fragt ein Hamburger Reporter kurz vor der Sitzung Dennis Gladiator. Der CDU-Innenpolitiker hatte angekündigt, Andreas Blechschmidt als Sprecher des linksradikalen Flora-Projekts in den Ausschuss laden zu wollen. Doch er kriegte ihn nicht: weil die Bürgerschaftsverwaltung seine Adresse nicht fand. Dennis Gladiator zuckt mit den Schultern: „Wir wissen nicht, wo er wohnt.“
Wo die Wasserwerfer dröhnten
Dabei ist Blechschmidts Wohnung ganz einfach zu finden. „Guten Morgen!“, grinst der sportliche Aktivist in den Hausflur, als er die Tür seiner WG öffnet. „Komm rein, ich hole nur mein Handy, dann trinken wir draußen einen Kaffee, beim Portugiesen vielleicht?“ Der 52-Jährige hat seinen Namen von der Tür entfernt, „nach der ganzen Hetze“, erklärt er. Aufgeräumte WG, schicke rote Küchenzeile, auf zum Portugiesen.
Wir laufen ins Schanzenviertel, die Sonne scheint, Vogelgezwitscher auf dem Schulterblatt. Wo vor einem Jahr die Wasserwerfer dröhnten und es Steine regnete, liegt jetzt schwarz-rot-goldenes Konfetti auf der Straße. Deutschland ist bei der Fußball-WM gerade ausgeschieden, man trägt es mit Fassung hier, „ich bin jetzt für Kroatien“, erklärt eine Frau ihrer Freundin und bugsiert den Kinderwagen durch die Fähnchen. Die Rote Flora ragt bunt in den hellblauen Hamburger Himmel, „Abschiebungen verhindern!“, steht jetzt dort, wo das Angebot der Fotoagenturen noch immer „NoG20“ zeigt. Wir setzen uns auf eine Bierbank, Blechschmidt bestellt Café Latte.
Wäre er der Einladung in den Sonderausschuss denn gefolgt? „Nee“, lacht er. Wäre er nicht. Im vergangenen April, als es um die von ihn angemeldete „Welcome to hell“-Demo ging, da hätte er denen gern erzählt, was wirklich passiert ist. Aber da wollten sie seine Geschichte ja nicht hören. „Ferk hat gelogen“, sagt Blechschmidt, er meint den Leiter der Hamburger Bereitschaftspolizei, Joachim Ferk. Der sagte im Sonderausschuss aus, die Polizei habe die Demonstration nicht laufen lassen, weil Blechschmidt keinen Einfluss auf die Vermummten gehabt habe. „Das ist reine Fiktion, ich war ja gerade auf dem Weg zu den Vermummten im hinteren Teil des ersten Blocks, um mit ihnen zu sprechen, als Ferk die Demonstration vorne angreifen ließ“. In Blechschmidts Augen flammt Ärger auf, nur kurz, dann wischt er ihn mit einer Handbewegung vom Tisch und zuckt mit den Schultern. Wie oft hat er sich schon darüber aufgeregt, „der Sonderausschuss ist einfach nicht die richtige Form, das Ganze aufzuarbeiten, er dient nur dazu, die Darstellung von Polizei und Innenbehörden als richtig festzulegen“. Die einzige, die etwas zur Aufklärung beitrage, sei Christiane Schneider, er nickt, ja, Schneider von der Hamburger Linksfraktion, sonst halte er nicht viel vom Parlamentarismus, aber die habe viel geleistet rund um G20.
Christiane Schneider macht sich im Sonderausschuss heftig Notizen, legt die Brille ab, setzt sie wieder auf, dann schüttelt sie den Kopf über das, was sie hier gerade zu hören bekommt: Jan Hieber mit seinen nächsten Zahlen. An einem Beispiel möchte er verdeutlichen, wie die SoKo Strukturen geschaffen hat, um die 100 Terabyte für die Suche nach unbekannten Tätern nutzbar zu machen. „Erstmalig in Deutschland“, stolzer Nacken. Die Videos haben wiederholt Bilder eines französischen Pärchens aus Nancy ausgespuckt, bekannt aus dem dortigen Widerstand gegen ein Atommüllendlager. Das erste Mal tauchen die zwei am Abend des 7. Juli auf, um 19.48 Uhr bei Welcome to hell. Dann werden sie um 0.36 Uhr an der Max-Brauer-Allee gezeigt, dann um kurz vor 6 Uhr auf dem Camp im Volkspark Altona, von wo eine Gruppe Vermummter zur Elbchaussee startet, um Autos anzuzünden, dann zwischen 16 und 17.15 Uhr an der Hafenstraße, um 18.19 Uhr auf der Reeperbahn, „wo D. und S. zusammenkommen und S die Hand auf die Schulter von D. legt“, von 19.35 Uhr bis 20.35 am Schulterblatt, um 20.25 Uhr: „S. wirft den ersten Stein“, um 20.35 Uhr: „D. und S. rufen ‚Ganz Hamburg hasst die Polizei‘“. Den Franzosen wird vorgeworfen, in der Schanze rund 300 Personen zu schwerem Landfriedensbruch aufgewiegelt zu haben. Fünf Steinwürfe rechnet die SoKo nach Auswertung des Videomaterials S. zu.
Linksradikale Polizeiberater
Während die Polizei in dem Datenberg einen unendlichen Schatz an Informationen über unbekannte Täter sieht, entdeckt Christiane Schneider etwas anderes: „ein ungeheures Ausmaß an Überwachung“. Ihre Stimme klingt müde am nächsten Vormittag, bis 21 Uhr dauerte die Ausschusssitzung, in der Vergangenheit ging es auch schon mal bis ein Uhr nachts. Schneider war bei jeder Sitzung dabei, ständig schnellte ihr Finger hoch, sie fragte nach Grundrechtsverletzungen, nach Polizeigewalt, nach den vier Polizisten in Zivil, die sich vermummten und unter den Schwarzen Block der Welcome-to-Hell-Demonstration mischten. Der Sonderausschuss habe zur Aufklärung dieser Fragen kaum etwas beigetragen. Und jetzt fragt sie sich, ob eigentlich Datenschutzbeauftragte in die Arbeit der SoKo eingebunden sind. „Natürlich darf die Polizei nach Tatverdächtigen suchen, aber hier werden gerade neue Maßstäbe für absolute Überwachung gesetzt. Aus einem Netz von öffentlichen Videokameras und privaten Handyvideos wird die Polizei zukünftig Bewegungsprofile erstellen und das Verhalten von Personen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten dokumentieren können.“
Andreas Blechschmidt schüttelt den Kopf: „Ich habe es vorher gesagt. Wirklich, ich will jetzt nicht so klugschwätzerlich tun, aber ich habe es gesagt, auf den Veranstaltungen vor G20: dass das der Gipfel der Repression wird, dass vermutlich das SEK mit Maschinengewehren eingesetzt wird – wie es dann in der Schanze passierte.“ Neulich habe SoKo-Leiter Hieber gesagt: Einige Linksradikale würden zur Polizeiarbeit eine derart intensive Gegenaufklärung betreiben, dass sie als Einsatzdozenten bei der Polizei arbeiten könnten.
Ein Jahr nach dem Gipfel sind sie eben alle Experten geworden: Blechschmidt, Schneider, Hieber, sie alle können ihre Zahlen auswendig aufsagen, „von 155 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wurden bereits 52 eingestellt“, das kommt bei Schneider wie aus der Pistole geschossen, oder: „Über 100 Veranstaltungen gegen die G20 fanden statt“, oder: „Die Polizei zähle bei der Großdemonstration laut Protokoll 70.000 Menschen, gab öffentlich aber nur 50.000 heraus.“ Unter den Expertinnen wird der Gipfel zu einer Anhäufung von Zahlen. Aber wozu kamen all die Menschen in Hamburg eigentlich noch mal zusammen?
Starren auf den Schwarzen Block
Schneider verstummt kurz. Man hört es förmlich klicken, das Umschalten in ihrem Kopf: Ach ja, da war was, der Protest hatte ein politisches Anliegen. Heute ist es tief unter Ermittlungsfragen begraben. Aber jetzt lebt Schneider auf. „Es gab tolle inhaltliche Beiträge zur Kritik an den G20“, sagt sie, „Redebeiträge auf der Großdemonstration, Aktivistinnen unterschiedlicher Kontinente, die eine solidarische Globalisierung eingefordert haben.“ Wieder eine Pause, dann der Seufzer. „Aber die Kritik ist zu kurz gekommen. Es ist der Linken nicht gelungen, den Protest inhaltlich zu prägen.“
Vor der Roten Flora nickt Andreas Blechschmidt ernst. „Der Resonanzraum für linke Botschaften hat sich geändert“, sagt er. „Durch den gesellschaftlichen Abstieg ist die Verteidigung der eigenen Privilegien auf der Tagesordnung, nicht mehr die Frage nach einer solidarischen Globalisierung. Jetzt will man Flüchtlinge in Lager internieren, in Nordafrika und hier. Das ist Wahnsinn!“ Aber der Protest gegen die G20 sei inhaltlich durchaus stark gewesen. „Es gab tolle Reden bei Welcome to hell. Gewerkschaftsaktivisten aus Mexiko haben über die Ausbeutung in den Kohleminen berichtet. Diese Kohle wird hier am Hamburger Hafen umgeschlagen, sie wird im Kraftwerk Moorburg verheizt, deshalb gab es Protestaktionen am Hafen: um auf die Ungerechtigkeit des globalen Handels aufmerksam zu machen. Aber diese Botschaft drang nicht mehr durch.“ Woran lag das? Blechschmidt trinkt seinen Latte aus, der ist inzwischen kalt, er verzieht das Gesicht. „Das hat einfach keine Sau mehr interessiert, weil alle nur noch auf den Schwarzen Block gestarrt haben.“
Blechschmidt streicht sich über das Gesicht. Nein, an Ruhestand sei nicht zu denken. In Hamburg bieten Aktivistinnen jetzt Telefondienste zur Unterstützung der Seenotrettung im Mittelmeer. Er selbst lese gerade viel. Vor allem Herbert Marcuse. „Wenn der Kapitalismus sich sicher fühlt, zeigt er sich liberaldemokratisch. Und wenn er in Bedrängnis gerät, zeigt er sein faschistisches Gesicht“, sagt er.
Bei der Sitzung des Sonderausschusses fallen die letzten Sonnenstrahlen durch die kleinen Fenster hoch oben im Festsaal des Rathauses. Unter dem Kronleuchter beugt sich Jan Hieber wieder vor, nur wenige Zentimeter. „Die Ermittlungen der SoKo stehen nicht an ihrem Ende. Sie sind in vollem Lauf, sie nehmen sogar an Intensität zu.“ Früher seien sich Täter nach einer Aktion sicher gewesen, nicht erwischt zu werden, wenn sie ihre Personalien nicht abgeben mussten. Pause. Dann sagt er: „Das hat sich jetzt geändert. Auch zwölf Monate nach G20 kann sich kein Täter sicher fühlen, nicht doch noch in die Fahndung zu gelangen. Niemand kann ausschließen, dass die SoKo morgens plötzlich vor der Tür steht.“ Christiane Schneider setzt ihre Brille ab.
Später wird noch der damalige Regierende Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), jetzt Bundesfinanzminister, befragt. Eineinhalb Stunden sitzt er im Rathaus, er bringt es nur zu einem Satz: „Unverändert bin ich der Überzeugung, dass solche Treffen notwendig sind und in großen Städten in demokratischen Staaten stattfinden können müssen.“ Kein Zucken. Die Reglosigkeit im Gesicht vom Scholz ist absolut, als er hinzufügt: Man brauche natürlich gute Sicherheitskonzepte.
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