Das kritische Bewusstsein

Debatte Die Literatur ist politisch, ob sie es will oder nicht. Besser wäre, sie würde es wieder mehr wollen
Ausgabe 20/2016

Kein Zweifel, politische Literatur steht heute in Misskredit. Verstehen kann das, wer an die K-Gruppen-Lyrik der 70er Jahre denkt, an den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt oder die Brecht-Epigonen und -Epigoninnen, linke und feministische Selbstverständigungsprosa, die ganze überengagierte Pseudoliteratur, die besser nie geschrieben worden wäre – was allerdings genauso für zahlreiche nicht vordergründig politisch orientierte Texte gilt.

Man vergisst dabei, dass die Protagonisten des damaligen Diskurses, Johnson, Weiss, Enzensberger, Bachmann, Böll, mit Abstrichen auch Grass, Walser und Lenz, ganz selbstverständlich politische Autoren waren, nicht nur in ihrem öffentlichen Auftreten. Auch in ihren Werken manifestierten sich kritische Ambitionen. Weiss’ Theaterstücke, Bachmanns und Enzensbergers Gedichte, Bölls Katharina Blum, Johnsons Jahrestage – das sind Stellungnahmen, die ihre Autoren recht eindeutig positionieren, eine Haltung bezeugen, teils sogar Vorschläge zur Besserung unterbreiten.

Und das soll heute unmöglich sein? Oder unsinnig? Hat sich nicht vielmehr die Postmoderne mit ihrer historistischen Belanglosigkeit als Zwischenspiel erwiesen? Mehr noch: Als eine Ideologie, die geeignet war, den neoliberalen Umbau von Ökonomie und Gesellschaft zu kaschieren?

Nun, da dies vollends geglückt ist, werden die Risse offenbar. Die soziale Ungleichheit ist weltweit unübersehbar. Die Folgen sind spürbar. Sprunghaft anwachsende Migrationsbewegungen, ein europaweiter Vormarsch der Rechten. Wie in den USA schon seit zwei Jahrzehnten spalten sich die europäischen Gesellschaften, zwei politische Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Situation ist überaus brisant. Szenarien, nach denen die demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte womöglich in wenigen Handstreichen hinweggefegt werden könnten, sind keine Hirngespinste mehr. Das politische System, wie wir es kennen, steht nah am Abgrund. Und in dieser Lage soll ausgerechnet die Literatur schweigen?

Die Zögerlichen meinen, Literatur könne ohnehin nichts bewirken. Zudem käme, wenn sie sich in den Dienst externer Kräfte stellte, allenfalls schlechte Literatur heraus. Im besten Falle predige sie zu den Bekehrten. Aber ist das nicht der postmoderne Singsang, den wir schon kennen? Die Literatur soll bei ihrem Leisten bleiben und die Geschäfte nicht stören, das ist, was die deutsche Gegenwartsliteratur seit Anfang der 90er Jahre so treu beherzigt.

Kritische Literatur wird als „linkskonservativ“ verfemt, aber das unterschlägt einen Aspekt, der eigentlich eine Binsenweisheit ist. Gibt es überhaupt „unpolitische Literatur“? Wohl kaum, selbst wenn sie es nicht beabsichtigt, sich ins Innere und Private zurückzieht, wirkt sie politisch, indem sie die bestehenden Verhältnisse ästhetisch legitimiert. Auch darf man nicht übersehen, dass in Deutschland inzwischen eine Reihe von Autoren am Werk ist, die mit ihren Büchern bewusst oder unbewusst neoliberalen oder konservativen Ideologien zuarbeiten, meiner Meinung nach Ernst-Wilhelm Händler, aber auch Nora Bossong und Juli Zeh, zu schweigen von Martin Mosebach und Sybille Lewitscharoff. Politische Literatur steht heutzutage nicht mehr notwendig links. Der Diskurs über die scheinbare Überkommenheit einer kritisch-linken Literatur ist also zuvörderst selbst politisch motiviert, er will eine Gegenstimme ausschalten, was leider recht gut gelungen ist.

Worin aber besteht eine solche kritische Literatur? Es fällt auf, dass in den vergangenen Jahren gesellschaftliche Themen wieder Eingang in Romane finden. Entscheidend ist jedoch, auf welche Art das geschieht. Häufig werden diese Sujets nur aufgegriffen, um Aufmerksamkeit zu erheischen, Migranten spielen eine Rolle oder Figuren aus der Unterschicht. Der Börsencrash wetterleuchtet im Hintergrund, persönliche Tragödien von Leistungsträgern werden erzählt. Aber hinterfragt wird nichts, alles bloß frei flottierende Einzelschicksale, der ursächliche Kontext bleibt unbeleuchtet. Was hat zu dieser Situation geführt? Welche ökonomischen oder herrschaftlichen Strukturen stecken dahinter? Das bleibt im Dunkel.

Humanistische Überzeugung

Natürlich sind die Zeiten einer leidenschaftlichen Parteilichkeit vorbei, ein Pariser Kriegsgesang, wie Arthur Rimbaud ihn zum Zeichen seiner Befürwortung der Commune anstimmte, wäre heute nicht mehr am Platz. Eine Hymne auf den heldenhaften Kampf von Verdi um fünf Prozent mehr Lohn, Spottgedichte auf die leitenden Angestellten von Dax-Konzernen – das wäre schon lächerlich.

Was also kann politisch-kritische Literatur, was kann sie nicht? Sie wird kaum eine Revolution auslösen, aber sie kann historisches Wissen bewahren und anschaulich machen. Sie kann Zeitströmungen aufnehmen, neue Blickwinkel eröffnen, nicht wie ein Essay durch explizite Kritik, sondern durch die Unmittelbarkeit der Darstellung, durch Einfühlung, durch Nachleben und Ausleben der Widersprüche. Sie kann Bewusstsein wecken oder wachhalten. Wann wäre das nötiger als jetzt, da humanistische Überzeugungen von Radikalismen verschiedener Couleur überwältigt zu werden drohen?

Dazu muss sie historische, soziale und ökonomische Zusammenhänge analysieren, ihre Figuren und Plots danach ausrichten und über den Standpunkt der eigenen Rede reflektieren. Es ist ja nicht so, dass es diese Literatur nicht längst gäbe, man denke an die Theaterprojekte Milo Raus, an Rainald Goetz’ Kontrolliert und Johann Holtrop, an die Bücher Kathrin Rögglas. Mehr davon! Wenn Literatur nicht mehr politisch ist, was ist sie dann überhaupt noch?

Enno Stahl ist Ko-Organisator der Berliner Tagung Richtige Literatur im Falschen? II , die von 19. bis 21. Mai im Literaturforum im Brecht-Haus stattfindet

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