Spätestens seit Kerkelings Pilgergang sind all die Wanderbücher immer auch auf Heimatsuche. Bodennahe Selbstversicherungen selbstauferlegter Kosmopoliten? Möglicherweise Symptom dafür, dass die ‚Aufgeklärten‘ all das, was sie AfD-Affinen zuschreiben, auch nicht einfach wegstecken – wenngleich im Regelfall reflektierter. Auch wenn er aus jener Gegend kommt, wissen wir nicht, ob Cornelius Pollmer irgend mit Emma, der ersten Frau von Karl May, verwandt ist. Mit Sicherheit ist er kein Karl May, sondern veritabler Reporter, in der SZ zuständig für Ostdeutschland. Da ist eine Wanderung durch Brandenburg schon wie ein Aufbruch ins Ungeahnte. Selbst wenn man sich durch Fontane leiten lässt. („Was der Film für Cannes ist und die Mode für Paris, das ist Fontane für Neuruppin.“) Manchmal, schreibt er, entsteht beim Wandern „Kontemplation, manchmal eine wohlige Langeweile“. Aber: „Mit einer guten Begleitung stellt sich die Frage nach dem Geschehen noch einmal neu.“ Er ist ständig in Begleitung unterwegs, die allein schon für Buntifizierung der eher monoformen Gegend sorgt. Mit Herrn von Knesebeck im Einzelhandel, Fallschirmfallen mit Yogi bei Fehrbellin, Hundekondolenz für Iris Berben, die Schicksalswege von Gabi und Reinhardt, mit Alex vom Rufbus, auch Reiterball, Beerboarding und Hahnenrupfen im Spreewald, Hochzeitsvorbereitungen in Marquardt oder Fontane-Archiv in der Nauener-Vorstadt. Er macht Menschen wie Gegend plastisch, nicht unbedingt anheimelnd, jedenfalls weniger befremdlich.
„Damals“, sagt Joachim Król, „stand doch die Welt auf dem Kopf.“ Damals war 1993, als Detlev Buck mit ihm und Horst Krause Wir können auch anders drehte. Damals auch hatten der Reporter Lucas Vogelsang und Król sich angefreundet. Nun sind sie auf teils Grenz-, teils Schauplatz-Tour. Zunächst um Marienborn herum. Im O/W-geteilten riesigen Kohlelager um Harbke, wo sich Reiner Orlowski an die Nachkriegs-, Kaltekriegs- und Wendezeit erinnert. Wildwest und -ost. Sie sprechen mit Grenzgängern, -bewachern und -verletzern von damals, mit Ost-West- und West-Ost-Gezogenen. Geglückte und verunglückte Lebensläufe. Nachdenkliches, Anekdotisches, Halbvergessenes, noch Präsentes. „Am Ende“, sagt Rainer Bretschneider, ehedem als „Gründungsbeauftragter“ für das Verkehrsministerium aus NRW nach Brandenburg gekommen, zuletzt Flughafenkoordinator des BER, „müssen Sie sich die Wiedervereinigung wie eine Umgehungsstraße vorstellen. Auch da gibt es immer Gewinner und Verlierer. Der Verkehr ist vernünftig organisiert, aber es wird immer Anwohner geben, die unzufrieden sind.“ Horst Krause sieht das nicht ganz so kühl. Er hatte sich arrangiert, aber mit der Partei, „mit dem ganzen Gesindel hatte ich nichts zu tun“. Dafür erzählt er schlitzohrige Renitenz-Anekdoten um Spee-Pakete oder Frottee-Unterwäsche. Einen sibyllinischen Blick hat Joachim Clausen in Boltenhagen: „Die DDR …war nicht schlecht. Es war nur schlecht, dass wir sie hatten.“
Wahrscheinlich, dass allerlei Freitägliche ins Ruhrgebiet ein- oder ihm von ferne verbunden sind. Nicht nur ihnen gilt die Annonce eines Wälzers, dessen Gewicht mit einem Stapel Briketts zu vergleichen sich schon aus energiewendigen Gründen verbietet. Ultimatives über die Erinnerungsorte des Ruhrgebiets: Vom dunklen Rauch, der einst für Joseph Roth die Städte verband und heute verraucht ist, über das Grün der Gruga hin zum Blau von Ruhr und Emscher. Naja. Selbstredend Zeche und Eisenhütte nebst Arschleder, Grubenlampe, Steigerlied und Kruppianer. Infrastruktur zwischen Ruhrschnellweg, Trinkhalle und Aldi. Grundnahrungsmittel wie Bier, Currywurst und Döner. Kulturelles wie Folkwang, Bochumer Schauspielhaus, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Arbeiterliteratur und Ruhrdeutsch. Historisches wie Ruhrkampf, Ruhrpolen, Zwangsarbeit, Bombenkrieg und Strukturwandel. Nichts scheint vergessen. Doch: Zumindest die Taubenvattern, Ruhrprinzessinnen und Weiland-SPD hätten noch einen Eintrag verdient.
Zwar war ich nie dort und werde wohl nicht mehr hinkommen. Zudem würde das meine angesammelten Vorstellungen heillos überfordern, aber Sizilien fasziniert immer wieder. Nun also ein Buch über die Literatur Siziliens, die über Jahrhunderte immer wieder aufeinander aufbaut. Der Leopard nimmt naturgemäß einen besonderen Platz ein, doch geht es dann weiter bis zu den Krimiautoren Sciascia und Camilleri. Zur Gegenwart hin wird es etwas geraffter. Das wird man nicht in einem Rutsch lesen, dies Juwel: Es verwebt die Literatur mit historischen und kulturellen Entwicklungen und eigenem Erleben. Wohltuend: Alles das ist kein Vorwand für Ich-Geplapper. Die eigenen Erfahrungen dienen als dezente Verständnishilfen. So könnte man von Autorin Maike Albath sagen, was sie der Verlegerin Elvira Sellerio attestierte: „Mischung aus Instinkt, Bildung und Intellektualität“. Klug, dezent, feinsinnig im besten Sinn.
Info
Heute ist irgendwie ein komischer Tag. Meine Wanderungen durch die Mark Brandenburg Cornelius Poller Penguin 2019, 237 S., 20 €
Was wollen die denn hier? Deutsche Grenzerfahrungen Lucas Vogelsang/Joachim Król Rowohlt 2019, 271 S., 20 €
Zeit. Räume. Ruhr. Erinnerungsorte des Ruhrgebiets. Stefan Berger, Ulrich Borsdorf u.a. (Hrsg.) Klartext 2019, 942 S., 39,95 €
Trauer und Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens Maike Albath Berenberg 2019, 350 S., 25 €
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