Bücher über Heimat und Zuhause: „Unsre Türke schwätzet wie mir“
Sachlich richtig Ein Wolkenkuckucksheim für die „Everywheres“? Sachbuchkolumnist Prof. Dr. Erhard Schütz liest Bücher über (neue und verlorene) Heimat von zu Hause aus und findet dabei die Unterschiede
Ach je! Da hatte ich gedacht, es müsse doch interessant sein, wenn ein Philosoph übers Zuhause schreibt, zum Beispiel den „Anywheres“ eine gedankliche Heimstatt gibt. Doch gefehlt: Eher ein Wolkenkuckucksheim für „Everywheres“. Die Philosophen hätten über Staat und Politik das Zuhause vergessen und damit das Menschheitsglück verfehlt, da es doch an der Zeit sei, „diesen Planeten endlich in unser wahres Zuhause zu verwandeln“. Doch da die sozialen Medien einen ungebundenen Raum geschaffen hätten, der „weitgehend dem Bild unserer Wohnungen nachempfunden“ sei, wundert nicht, dass es mehr ums Drin- und Drumherum geht: Haustiere, Liebe, Zwillinge, Weißes Pulver, Wälder und Gärten – so einige
ge Kapitelüberschriften.Neben dem großzügig ausgebreiteten Ich des Autors findet sich vor allem sozusagen exoterische Esoterik: Gaia, die Gute, ist ein Superorganismus, mit dem wir verschmelzen sollten. So auch in Küche und Bad. Letzteres ist Ort der Trennung, ein „Moralwächter“ über unsere Geschlechtsorgane, die wir „nur mittels anderer nutzen und kennen können“. Darum sollte es zukünftig „kein Raum der Separation, sondern der Begegnung von Körpern sein“. Diese Erleuchtung kam ihm in einer Berliner Wohnung mit Bad in der Küche. Die Küche wiederum? „Wir sind Köche der Welt. Wir kochen und verwandeln sie unaufhörlich und kochen uns selbst dabei gleich mit.“ Na, dann: Bon appetito!„Die Heimat konnten sie uns rauben. Unsere Kultur und Sprache aber nicht“, zitiert Henriette Kaiser eine 88-jährige, in Köln geborene Jüdin in Buenos Aires. Was Joachim Schlör für Berlin an herzzerreißender Anhänglichkeit jüdischer Exilierter an die Stadt dokumentierte (Im Herzen immer ein Berliner, vbb 2021), das findet sich hier in den Interviews von deutsch-jüdischen Flüchtlingen, die mit ihren Eltern den Nazis entkamen, als Anhänglichkeit an Kultur und Sprache. Besonders delikat, dass Argentinien 1945 bereitwillig vor der Sühne ihrer Schandtaten geflohene Nazis aufnahm, die dort dann ihren Opfern begegneten.Die Frauen aus Köln, Hannover oder Dresden erzählen von Erlebnissen bei Flucht, Überfahrt, Ankunft und im Alltag, von Freundschaften, Sprachen- oder Tango-Lernen und wie sie sich andere Vornamen zulegen mussten. Vor allem aber erzählen sie, die bei der Abreise zehn, elf, zwölf Jahre alt waren, immer wieder von ihrem tiefen Verhältnis zur deutschen Kultur. Goethe, Heine – auch Wagner. So gewinnt man einmal mehr einen lebhaften Einblick ins Damals, dazu mehr Verständnis für die, die heute hierher kommen und an ihrer Herkunft festhalten.Eine andere Destination der Flucht war Shanghai, wo 1940 über hunderttausend Europäer lebten, wo einige dann vom neutralen Viertel aus die Japaner beim Abschlachten der Chinesen beobachten konnten, bis sie selbst in Gefahr gerieten.Franziska Tausig hat, 1945 als Journalistin nach Wien zurückgekehrt, ihre verzweifelten Versuche des Entkommens plastisch geschildert, den Glücksfall einer Schiffspassage nach Shanghai und das abenteuerliche, schwierige Leben dort. Diese Neuauflage des 1987 mit dem Untertitel Emigration ins Ghetto erstmals erschienenen Buchs ist höchst lesenswert! Zumal auch wegen des Nachworts ihres Sohnes, des Schauspielers Otto Tausig, der mit einem Kindertransport nach England gekommen, bis 1945 von der Mutter getrennt war.Über was Florian Werner auch schreibt, man liest es gern. Er, der wie ein Musterschwabe am Prenzlauer Berg von vegetarischen Maultaschen und Bionade lebt, hat sich seine Herkunftsstadt vorgenommen. Aber, wie der Schwabe so ist, macht er daraus gleich einen für die Bundesrepublik exemplarisch sein sollenden Komplex. Angetan hat es ihm vor allem die Kessellage der Stadt: „Wenn man die Topographie von Stuttgart im Querschnitt betrachtet, sieht sie aus wie ein Diagramm zur Veranschaulichung der Wertschöpfungskette im globalisierten Kapitalismus.“Die Einzelteile im Komplex sind „Stuttgart 21“– eine kompakte Darstellung des Irrsinnsvorhabens – und die daraus resultierenden Wutbürger, die er wiederum reinlich von den Querdenkern zu scheiden weiß, dazu die gemeinsame Ahnenschaft im „Pietcong“. Dann die statt der Globaliker dortigen Globulistikerinnen, allerdings auch Reverenz an impfende Waldis, dazu das Automotive von Daimler, Porsche bis ADAC. Das industriell Mittelständische.Dazu eine Anekdote: Vor Jahren sprach ich nach einer Lesung in Marbach mit einem leitenden Ingenieur über meine Beobachtung, dass Menschen migrantischer Herkunft in der S-Bahn allesamt breitest schwäbelten. Er: „Ja, unsre Türke schwätzet wie mir. Un ihr in Berlin schwätzet wie eure Türke.“ Dazu – lascht bat not liescht – die Kehrwoche. Amüsant und bedenkenswert, so ganz ohne schwäbische Rechthaberei, ein Viel-, kein Besserwisser.Die Stadt, der Rolf Lindner nachgeht, hat nun so gar nichts mit Stuttgart zu tun. Sie ist nämlich Metropole. Für Metropolen gibt es zwar, anders als für Dörfer, keine Verwaltungsdefinitionen, dafür aber durch multimediale Mythen und Agenden die traumwandlerische Gewissheit, dass es sich um eine solche handelt. Paris, London und, ja, auch: Berlin, sind kulturelle Konstrukte mehr denn verwalterische Einheiten. Sie sind Orte der Attraktion und der Verwandlung. Verwandlung ist, so Lindner, ihre Attraktion. Gerade weil man als Fremder erst einmal auf Fremde trifft.Das, was er dazu in stupender Breite und Tiefe heranschafft, lässt sich hier nicht einmal ahnungsweise ausbreiten. Nur so viel: In prägnanter Dichte gelingt ihm nicht nur eine feine Darstellung der Urbanitätsforschung bisher, sondern vor allem ein Streifzug durch die metropolitane Vielfalt – von den Attraktionen des Amüsements bis zum Verkehr zwischen Leben, Arbeit und eben Unterhaltung, zwischen Zuzug vom Dorf und Befreiung in der Szene (die dann wiederum zum Dorf wird), zwischen bedrohlichem Identitätsverlust, geheimer Doppelexistenz und zugelegter neuer Identität. Das liefert Elemente zu einer Theorie des Urbanen, die sich zunächst in der Fremde zu verirren scheinen, sich allmählich choreografieren, wobei man Bekannten wie Simmel begegnet und einer Vielzahl von bislang Fremden, aber wichtigen, Dubiosen und Koryphäen, Handlangern und Kopfarbeitern, um dann im Grundprinzip der Metropolen, der Erleuchtung durch Zufall, dahin geführt zu werden, dass es kein Zufall ist, wenn einer das derart intelligent und menschenfreundlich zusammenführt.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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