Unter den zahllosen Varianten, die seit 1781 zu den Abenteuern des Lügenbarons erschienen, hat die umfangreichste und eigenwilligste Karl Immermann mit seinem 1838 und 1839 erschienenen Roman Münchhausen geliefert. Der 1796 geborene Immermann führte eine bürgerliche Juristenexistenz, die ihn von Münster über Magdeburg nach Düsseldorf führte, wo er zugleich als Theaterintendant fungierte. Als Autor war er ungemein fruchtbar und vielseitig. Privat spannte er dem Kriegshelden Lützow, der sich mehr für die wilde, verwegene Jagd interessierte als für die feineren Interessen seiner Frau, diese aus und lebte fortan mit der acht Jahre älteren Gräfin unverheiratet zusammen, bis er 1838 die 19-jährige Marianne Niemeyer vorzog, heiratete, schwängerte – und 1840 starb. Karl Immermann war zwar ein literarischer Star seiner Zeit, aber den Nachruhm seines Romans konnte er nicht mehr einheimsen.
Bürgerlektüre bis zur Nazizeit
Sein Münchhausen war zudem ziemlich schief gelagert im Lauf der Zeit. Waren die Zeitgenossen zunächst von den furiosen Einfällen, den Anspielungskaskaden und satirischen Streichen, dem turbulenten Hin und Her rund um die titelgebende Figur auf dem Schloss „Schnick-Schnack-Schnurr“ des Barons „Schnuck-Puckelig-Erbsenscheucher“ (diese Namen sind der einzige doofe Einfall des Romans) begeistert, so verschob sich das Interesse bald zu der im Roman eingebauten Gegenwelt des münsterländischen Oberhofs mit seiner biderben Figur des Hofschulzen – eine Art Bürgermeister und Inbegriff bäuerlicher Autonomie –, und alsbald wurden die entsprechenden Teile herausgegriffen. Immer wieder separat veröffentlicht, verdrängten sie fast völlig ihre Herkunft, wurde der Oberhof zur beliebten Bürgerlektüre bis in die Nazizeit hinein, Musterbild teutschbraven Bauerntums.
Nun ist der gesamte Roman in einer mustergültigen Ausgabe wieder zu haben. Und zeigt, wie sehr diese vermeintlich heile Bauernwelt selbst eine Illusion ist, eine Wunschfiguration aus jener anderen Welt, für die Münchhausen und die anderen Teile des Romans stehen – eine Welt des Wandels, der Unbeständigkeit, Orientierungslosigkeit und Überforderung – vor allem durch Information. Der Schlossherr ist nämlich den Journalen so verfallen wie wir den Informationsangeboten zwischen Zeitungen, Podcasts, Fernsehen, sogenannten sozialen Medien und so fort. Er tritt einem „Journalzirkel“ bei, der sämtliche Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung stellt, samt „Lesefrüchten“ und Extrakten aus den Lesefrüchten, Wissen und Meinungen aus allen Gebieten der Welt, der Politik wie der Wissenschaften. Also ähnlich wie bei dem Onlineformat Perlentaucher.
Bald ist der Baron überfordert. Da fällt Münchhausen vom Himmel. Er ist der personifizierte Fake-News-Kanal, füttert den Baron und die Seinen mit immer größerem Aberwitz, Geheimweisheiten und pseudowissenschaftlichem Blödsinn. Was Immermann wiederum nutzt, um den Ansichten und Aufregern seiner Zeit satirisch Zunder zu geben. Mithin die überinformierte Unberatenheit der Zeit zu karikieren, von der er sich selbst nicht einmal ausnimmt, indem er – nach großen Vorbildern – selbst im Roman auftritt und gewissermaßen mit Münchhausen konkurriert. Sieht man sich nun von hier aus die Welt des Oberhofs an, so wird dessen vermeintlich aufrechte Bodenständigkeit, die Welt der alten Spruchweisheiten und des Brauchtums fadenscheinig, denn der Schulze handelt durchaus egoistisch, betrügt und fälscht zum eigenen Nutzen, und die vermeintlich heile Gemeinschaft tut, was Gemeinschaften gern tun – andere ausstoßen.
Kann man das also so lesen, dass eben auch das Verlangen nach überschaubarer Gemeinschaft in gesicherten Traditionen ein Phantasma der von sich selbst unberatenen, durchdrehenden Beschleunigungsgesellschaft ist, dann bietet Immermann als wahren Ausweg ein Modell an, das auf den ersten Blick ebenfalls dieser medial verspiegelten Welt zu entstammen scheint – das der unverbrüchlichen Liebe.
Natürlich, kein beim Publikum erfolgreicher Roman ohne Liebesgeschichte. Und das rührend liebende Paar Oswald und Lisbeth steht nicht nur zwischen den beiden Welten des lügenverwirrten Schlosses und des spruchweisen Hofes, sondern ist wie diese selbst Teil der papiernen Medienwelt.
Die Botschaft, die uns der Roman am Ende über sie mitgibt, nur getreulich dem „Herzen“ zu folgen, könnte man auf den ersten Blick in einer Linie mit Saint-Exupéry oder Star Wars sehen. Auf den zweiten ist es aber doch mehr.
Glücklich herausfinden
„In das Schiff der Zeit muß die Bussole getan werden, das Herz.“ Die Bussole, mithin der Kompass, schafft eine mögliche andere Verbindung, nämlich zu jenem Modell, das in den 1950ern der Soziologe David Riesman in Die einsame Masse so erfolgreich ins Spiel brachte, die Trias von traditions-, innen- und außengeleitetem Typus. Den traditionsgeleiteten fände man im Oberhof, den außengeleiteten in der Münchhausen-Welt der Journal- und Lügengeschichten. Der außengeleitete war für Riesman der „information dopester“, der Informations-Fixer. Ihm, dem allfälligen Radartyp, stellte er den – auf dem Rückzug befindlichen – innengeleiteten gegenüber, der im Kern über einen „Kreisel-Kompass“ verfügt. Denn bei Immermann bedeutet „Herz“ nicht bloßen Gefühligkeitsdusel, sondern Training fürs „Wesentliche“. Doch kommt das nicht als Programm daher, sondern literarisch lustvoll über all die abschweifenden Um- und Irrwege des Sichverlaufens mit dem Versprechen, am Ende glücklich hinauszufinden.
Info
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken Karl Immermann Mit einem Nachwort von Tilman Spreckelsen, Die Andere Bibliothek 2021, 852 S., 52 €
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