Ein Chamäleon der Macht

Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz auf Geschichts-, Landschafts- Seelen-, Kindheits-und Lesereise
Ausgabe 15/2016
Hans Woller zeigt einen Mussolini ohne die oftmals beliebte Verklärung
Hans Woller zeigt einen Mussolini ohne die oftmals beliebte Verklärung

Foto: Keystone/Getty Images

Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) war einer von Hitlers obskuren Stichwortgebern, antisemitischer Rassentheoretiker und Hofphilosoph von Wilhelm Zwo. Der Schwiegersohn Richard Wagners war einer der notorischen britischen Verehrer des germanischen Deutschtums. Wie Wagner wurde auch Chamberlain von Juden hoch verehrt. Sven Brömsel deutet das in seiner Dissertation als Exempel dessen, was Theodor Lessing jüdischen Selbsthass nannte. Die Liste der Chamberlain-Verehrer ist beachtlich: Walther Rathenau, Karl Kraus, Martin Buber. Dazu viele damals intellektuell und künstlerisch einflussreiche Figuren. In der hin und wieder auch mäandrierenden Darstellung entsteht so – Selbsthass hin, Selbsthass her – ein facettiertes Bild der Ideen- und Intellektuellengeschichte um 1900 und danach. Es zeigt sich hier einmal mehr, wie bei näherem Hinsehen die vermeintlich scharfen Profile der Zeiten ineinanderlaufen, dafür aber an Nuancen gewinnen.

Viele Intellektuelle, die sich vor den Nazis gruselten, zeigten sich damals vom Faschismus und speziell von Mussolini fasziniert: Der Duce schien ein Vergangenheitsaufräumer und Zukunftsanpacker, der aus den Italienern „Römer der Moderne“ machen wollte. Geblieben ist in vielen Köpfen bis heute, dass der Faschismus nicht so rassistisch, überhaupt irgendwie komödiantischer war.

Hans Woller zeigt einen Mussolini, der weder Avantgardediktator noch Grossgestikulator, sondern ein Chamäleon der Macht, ein brutaler Antisemit und Mann des Terrors war, der sich vom jungen Pfaffenhasser, Querbeetleser von Marx bis Sorel, Übersetzer von Kropotkin wie Kautsky, Bewunderer Klopstocks wie von Platens, zum totalitären Sozialisten und Abenteurer entwickelte, der nach 1918 die politische Paralyse zwischen Sozialisten, Liberalen und Katholiken nutzte. Der Faschismus, reaktionär und revolutionär zugleich, gab sich als Partei der Nation gegen die Parteien der Parteiischen. Vom Volk für seine Auftritte mit nacktem Oberkörper geliebter imperialistischer Abessinien-Abenteurer, der vom Nazi-Verächter zum Partner und dann Vasallen wurde, derweil er innenpolitisch das volle Programm der Ausgrenzung und Verfolgung aller betrieb, während er seiner „Sexsucht“ ungehemmt nachging.

Konzentrationslager und Massenexekutionen, er „genierte sich nie, Mord und Brand zu befehlen“. Nach der Landung der Alliierten in Sizilien zerfiel die Partei, verlor er den Rückhalt der Bevölkerung. Ende Juli 1943 musste Mussolini klammheimlich im Krankenwagen davon, kam – in den Tagen von Salò – wieder, um Ende April 1945 sein grausiges Ende zu finden. Seine Heimatgemeinde Predappio ist heute eine attraktive Pilgerstätte nicht nur für Neofaschisten …

„Wenn der Himmel durch Leere schreckt, suchen wir nach Zeichen auf der Erde“, hatte Andrzej Stasiuk 1997 in seinem Reisebuch Die Welt hinter Dukla geschrieben. Seither hat er reisend Buch um Buch geschrieben, die Zeichen gesucht, in einem Osten, in dem die Wahl zu sein scheint zwischen Relikten des schlechten Alten und Angeboten eines noch schlechteren Neuen – mit zunehmend metaphysischen Spekulationen über die un- oder anders-europäische Seele. Nun also: Der Osten. Es ist dies wieder ein Reisebuch par excellence: Landschafts-, Seelen- und Kindheitsreise. „Im Reich der Kindheit (…) Auf der Müllhalde menschliche Reste.“ Die postsowjetische Zone von Polen bis vor China, zehntausend Kilometer Raum, verbunden durch einen Boden gespickt mit menschlicher Asche und Knochen. Schwarze Melancholie! Doch steckt das Buch zugleich so voll jäh blitzender Lichter, entzündet an Beobachtungen, Landschaft, Menschen, Dingen.

Kann man das als Sachbuch nehmen? Nicht weil Wiglaf Droste wegen drastischerer Bemerkungen zur Femininität als unsachlich unerwünscht gilt, sondern weil die Texte, die er zumeist fürs Monatsmagazin der NZZ schrieb, so literarisch sind. Zumal so umwerfend sachlichkeitspoetisch illustriert von Nikolaus Heidelbach! Und wie sanft und milde gestimmt er ist! Er gönnt den „NüssInnen“ Aufklärung über die Weiblichkeit des Kochens, ist nachsichtig gegenüber Facebook, das er freundlich „Visagenkladde“ tituliert, ist rollkofferhasskonformitätskritisch und spöttelt über „Wellness pur“ in Marketing-Vorpommern. Vor allem Reiseerinnerungsgeschichten sind in diesem Buch versammelt: Italien, Ir- und Helgoland, Mexiko, Zürich, Berlin (das der Mützenträger und „Wir-machen-alles-aber-sowas-von richtig-Frisagen“), das sichere Drittland Balkonien.

Erinnerungs-, Freundschafts- wie Küchengenüsse. Frikadellen mit Kapern, Knoblauch und Chili, kalauergefährliche Pizza Pizzo, Hinkenbrötchen, Banditen-Frijoles, Nudeln mit Nichts. Dazu Geschichtchen über Freund Vincent K., ein begnadeter Koch und gnadenloser Fernsehköchler. In alledem, eingeträufelt wie feinstes Olivenöl, kräftige Lebensweisheiten – durch Barbesuche zur schönsten Klarheit filtriert.

Und nun noch in andächtig anbetender Kürze das Buch eines genuinen Lesers: In Sich verlieben hilft streicht und weilt David Wagner durch die Bücherwelt wie sonst durch Berlin oder, wie in Vier Äpfel, den Supermarkt. Ein pures Lesevergnügen sind seine Lesevergnügungen. Leseweltreisen – ins Schreibstübchen wie die Lieblingsbuchhandlung, durch die eigene wie die Bibliotheken zwischen Stabi und Kubi, Bibliothèque nationale (die alte, naturgemäß) oder Bibliothek der Villa Aurora. Kleine, feine Hommagen an Peter Handke wie Teju Cole, an Günter de Bruyn wie Erich Mühsams Tagebücher. Aber auch Serien, die wie Bücher saugen – Räuber Hotzenplotz, Darth Vader, Louie und die deutsche Fußballnationalmannschaft. Ein buchliebenswürdiges Buch, das einen hemmungslos promisk in alle die erwähnten Bücher sich verlieben lässt.

Info

Exzentrik und Bürgertum. Houston Stewart Chamberlain im Kreis jüdischer Intellektueller Sven Brömsel Ripperger & Kremers 2015, 331 S., 29,90 €

Mussolini. Der erste Faschist Hans Woller C. H. Beck 2016, 397 S., 26,95 €

Der Osten Andrzej Stasiuk Suhrkamp 2016, 297 S., 22,95 €

Nomade im Speck Wiglaf Droste, Nikolaus Heidelbach Edition Tiamat 2016, 192 S., 18 €

Sich verlieben hilft David Wagner Verbrecher-Verlag 2016, 144 S., 19 €

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