Nerv nicht, Odysseus!

Sachlich richtig Erhard Schütz findet heraus, wie sich die alten Griechen dissten
Ausgabe 17/2019
Dramaqueen Odysseus, gestrandet
Dramaqueen Odysseus, gestrandet

Foto: Imago Images/United Archives International

Das liest sich wie drei Bücher in eins. Und keins möchte man missen. Von Daniel Mendelsohns Buch versprach ich mir – zu Recht – eine kluge und amüsante Einführung in Homers Werk. Es entpuppte sich als viel, viel mehr, nämlich als eine umwerfende Erzählung von einem Seminar über Homers Epos, über eine Schiffsreise zu den Orten der Odyssee und in allem obendrein eine Vater-Sohn-Geschichte. Wie die Odyssee ja nicht nur einfach die Geschichte einer Irrfahrt, sondern auch die Geschichte des Sohnes Telemach ist, der ausfährt, den Vater zu suchen – und dabei über ihn und seine Taten erzählt bekommt, was die Anwesenden immer mal wieder zu Tränen rührt. Mendelsohn nun erzählt, wie er seinen 81-jährigen Vater, einen exaktheitsfanatischen Naturwissenschaftler, mit in sein Seminar über die Odyssee nimmt. Der Vater hat strikte Ansichten: Odysseus tauge nicht zum Helden. Er weint ständig und betrügt unterwegs seine Frau. Auch als Kriegsherr ist er eine Niete, denn er verliert alle seine Männer. Und dieses dauernde Gejammer! Obendrein helfen ihm ständig die Götter aus der Patsche. Da kann man leicht Held sein. Mendelsohn nutzt das nun nicht nur, um zu erklären, warum Odysseus kein Schlagetot und Haudrauf mehr sein muss wie die Helden der Ilias, sondern erzählt, wie der Vater, wie seine Generation so wurde. Er verwebt dabei höchst raffiniert den Fortgang der Seminarerläuterungen mit dem Leben des Vaters und der Familie, verbindet amerikanische Gegenwart mit der Antike. Beides fällt schließlich zusammen: in einer Reise mit dem Vater zu den Stationen von Odysseus’ Irrfahrt im Mittelmeer. Die anrührendste Situation: Der Vater will unbedingt, dass der klaustrophobe Sohn zur Besichtigung der engen Höhle der Kalypso mitkommt. Schließlich habe Odysseus dort sieben von zehn Jahren verbracht! Der Sohn kommt mit und bekommt eine Panikattacke. Da hält der Vater seine Hand … Ein mitreißendes Buch! Am Ende hat man mehr über die Odyssee gelernt als je zuvor.

Hier noch ein Hinweis auf einen soliden Reiseführer, da wir nun schon mal in der Gegend sind. Er geht immerhin über eine Strecke von 2.000 Jahren, nämlich von 1600 vor bis 400 nach dem Null unserer Zeitrechnung. Wahrscheinlich werden Altphilologen und Althistoriker allerlei vermissen, wie sollte es auch anders sein, aber für einen interessierten Laien wie mich war es, trotz aller Vorlektüren und Vorwissens, augenöffnend. Frisch, unterhaltsam und immer wieder verblüffend. Etwa: Bei den Athenern war höchster Ausdruck der Verachtung, von jemandem zu sagen, er könne weder lesen noch schwimmen. Denn erwartet wurde von den Vätern, dass sie beides den Söhnen beizubringen hatten. (Und die Töchter?) Das Schwimmen hängt mit dem Seefahren zusammen, die erste der zehn herausragenden Eigenschaften der Griechen, die Altertumswissenschaftlerin Edith Hall auflistet. Des Weiteren sind sie Autoritätsskeptiker, Individualisten, wissbegierig, für neue Ideen offen, humorvoll, wettstreitliebend, Bewunderer von herausragenden Talenten, redegewandt „und geradezu vergnügungssüchtig“. Der Trick ihres Buches: Sie geht Kapitel für Kapitel in exemplarischen Gemeinwesen und Figuren diesen Eigenschaften entlang. Ein wenig elegisch, wenn dann am Ende die Christen kommen …

Und weiter hinab in den Schacht der Zeit, in dem nun Schicht ist, zumindest in Deutschland. Der im Ruhrgebiet aufgewachsene Freiburger Historiker Franz-J. Brüggemeier führt tief zurück ins Zeitalter der Kohle, das um 1750 angefangen hat, aber eigentlich bis in die Farnwälder vor 250 bis 350 Millionen Jahren zurückreicht. Entlang von Schnittstellen der Kohle – hier nur der Stein- und nicht auch der lange ähnlich wichtigen, aber problematischeren Braunkohle –, nämlich Holz einerseits, Wind- und Sonnenenergie andererseits, dazwischen zu Atomkraft und Erdöl entwickelt er den Aufstieg der Steinkohle bis hin zu ihrem heutigen Verenden. Apropos Erdöl: Der Historiker Timothy Mitchell hat herausgearbeitet, dass Kohle-Länder anders als Erdöl-Länder entschieden bessere Voraussetzungen hatten, demokratische Strukturen auszubilden. Obwohl – oder gerade weil, wie Brüggemeier letztlich und detailliert zeigt – gerade in der Kohleindustrie es doch die harten Konflikte von Unternehmern und Unternommenen gab. In einem souveränen chronologischen Überblick entwickelt Brüggemeier, wie und warum Kohle das Holz ablöste, wie Kohle die Eisenbahn beförderte, die wiederum die Kohle beförderte, wie wichtig Wasserwege zum Transport waren, aber erst einmal auch Konsumentenerziehung betrieben werden musste. Er stellt die Entwicklungen von Bohrtechniken und Schachtbau ebenso dar wie vor allem die sozialen Verhältnisse des Personals, Frauen, Kinder, Zuwanderer – Grubenbarone, Hauer und Steiger. Ein beeindruckender, auch international orientierter Parcours, der Umweltbelastungen ebenso wenig ausklammert wie die Subventionsfolgen und den schwierigen Ausstieg. Was bleibt als „Erbe“ der Kohle? „Das konstante Angebot an verlässlicher und bezahlbarer Energie, das zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Alltag und Wirtschaft geworden ist.“

Info

Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich Daniel Mendelsohn Siedler 2019, 351 S., 26 €

Die Griechen und die Erfindung der Kultur Edith Hall Norbert Juraschitz (Übers.), Pantheon 2018, 416 S., 14 €

Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute Franz-J. Brüggemeier C. H. Beck 2018, 29,95 €

12 Monate für € 126 statt € 168

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