Oft unglücklich, aber niemals allein

Literatur Prof. Schütz fühlt sich beim Gang durchs Anthropozän wie beim FC Liverpool
Ausgabe 34/2021
You’ll never walk alone, zumindest nicht, wenn Du eine Pizza dabei hast
You’ll never walk alone, zumindest nicht, wenn Du eine Pizza dabei hast

Foto: Josep Lago/AFP/Getty Images

Als Goethe und Co., von Sehnsucht nach Italien gepackt, ins Land der blühenden Zitronen pilgerten, kam sie die Ernährung dort hart an. Makkaroni schienen ihnen ebenso unverdaulich wie das „Fladenbrot“, das Pizza hieß, oder die fiesen Meeresfrüchte, vor allem aber das penetrante Olivenöl, von dem sie angeblich Durchfall bekamen. Nach Möglichkeit hielten sie sich daher an Herbergen, die den Deutschen deutsche, den Engländern englische Küche servierten. Immerhin kommodierten die Getränke.

Dann zog es Italiener in den Norden, der für sie eigentlich schon diesseits von Rom begann – und mit ihnen die Kulinaria. Zunächst Zitronen und Pomeranzen, dann das Eis, dann Pasta und Pizza, schließlich auch das endgültig kultivierende Olivenöl. Ein Siegeszug von Streetfood und Distinktionsgenüssen gleichermaßen, an dem die Reiseführer als gastronomische Umerzieher einen nicht geringen Anteil hatten. Dieter Richter, der wohl klügste und am trefflichsten schreibende deutsche Italienkenner, hat ein wunderbares Büchlein zu dieser kulinarischen Umpolung geschrieben, prall voll Wissen, gespickt mit Anekdoten und, ja, voller Weisheit. Ersetzt Urlaubsreise und Gang zum Lieblingsitaliener – zumindest für die Zeit der Lektüre.

Mit Wiglaf Droste habe ich es gehalten wie mit Bob Dylan: In guten wie in schlechten Zeiten … Leider hat er Dylans inzwischen biblisches Alter nicht erreicht. Sein getreuer Verleger hat dem 2019 Verstorbenen nun eine veritable Auswahl aus dessen Texten nachgerufen. Nicht unbedingt ein Best of, indes eine Art Biografie aus seinen Texten, ergänzt um Erinnerungen von Freund:innen. Vom Mofa der Marke Rixe bis zur Weihnachtsschlemmerei auf Palermo, von der Kinderverkleidung zur Verkleidung als Mafiosi, von Getränk zu noch mehr Getränken. Und dazwischen schier Unaufzählbares an Trefflichem, manchmal auch Danebiges, unbändige Lust an Kalauern, Wortkontorsionen und Beschimpfungen. Letzteres gern gen Osten, wo „viel Identität weggebrochen“ ist. Gern auch gegen Berlin. Überhaupt: „Viele meiner Landsleute mag ich nicht sehr, sie sind oft denkfaul, bequem, reden ausschließlich über Geld und schreien rücksichtsfern in ihre Mobiltelefone.“ (Geht noch weiter.) Ostwestfalen, das auch nicht gut wegkommt, hat jedoch neben dem, Wiglaf Droste hervorgebracht zu haben, einen unvergleichlichen Vorzug: „Eine Sprache, in der Dölmer, Hachos und Tünsel ramentern, wullacken und kalbern, ist Heimat genug.“

Volker Sommer ist evolutionärer Anthropologe und einer der bedeutendsten Primatenforscher. Ein Glücksfall ist, dass er nicht nur über die Ränder seiner Wissenschaft hinauszusehen, sondern auch noch gut zu schreiben versteht. So sind diese Reflexionen auf und aus den jahrzehntelangen Forschungen ein Lesevergnügen und zugleich erhellende Beiträge zur Frage, wie wir mit der Erde, der Natur und vor allem unseren Mitprimaten umgehen wollen. Und: Welche Menschen wir sein wollen. Wesentlich beteiligt an der Weiterentwicklung der kognitiven Ethnologie und an der Erkenntnis, welchen Einfluss Geschichte auch auf die spezifische Herausbildung von Kulturen von Menschenaffen haben, ist Sommer ein engagierter Tierrechtler, der gegen Zoos argumentiert und für personale Grundrechte von Primaten eintritt.

Selbst wenn man so weit nicht mitgehen mag, ist das bedenkenswert. Darüber hinaus stellt er Fragen, die weit über den unmittelbaren Fokus hinausgehen. Etwa, was es bedeutet, wenn Wissenschaftler zu Aktivisten oder Advokaten werden. Oder was der Erhalt der Artenvielfalt bedeutet. Man wünschte sich das in die Hände aller Heranwachsenden – und ihrer Eltern.

Über was er schreibt, ist zunächst recht amerikanisch, ob DrPepper, Hot-Dog-Wettessen, CNN, Indianapolis oder die QWERTY-Tastatur. Dass man sich dennoch sofort angesprochen fühlt, liegt weniger an der Amerikanisierung unserer Kultur als zuvörderst an der unnachahmlichen Weise, wie John Green darüber ebenso schreibt wie über die Höhlenmalerei von Lascaux oder Klimaanlagen. Man ahnt, warum er bisher ein weltweit immens erfolgreicher Jugendbuchautor war: Anekdotisch, mit erfrischend unverstelltem Zugriff, mit verblüffenden, aber nie manierierten Assoziationen und sehr persönlichen, glaubwürdigen Einschätzungen.

Mit lakonischer Ironie wie heiterem Ernst mäandert er mit der virtuosen Fähigkeit durch unsere Alltäglichkeiten, die indifferent hingenommenen Graffitis an den Wänden des Alltags zu deuten. Fabeln unserer Wirklichkeiten: So ist es, aber so sollte es besser nicht sein. Mehr als alle die apokalyptischen Moralhämmer, die uns für die Klimarettung breitschlagen wollen, sind diese in fröhliche Freundlichkeit verpackten Bedenken geeignet, zu besserer Einsicht zu bekehren. Der Gang durchs Anthropozän ist, wie beim FC Liverpool, oft unglücklich, aber niemals allein. Am Ende ist man überzeugt, dass die Erde zu retten wirklich lohnt, und sei es nur unseretwegen.

Info

Con gusto. Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht Dieter Richter Wagenbach 2021, 164 S., 20 €

Chaos, Glück und Höllenfahrten Wiglaf Droste Klaus Bittermann (Hrsg.) Tiamat 2021, 359 S., 24 €

Unter Mitprimaten. Ansichten eines Affenforschers Volker Sommer Hirzel 2021, 202 S., 24 €

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? John Green Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle, Violeta Georgieva Topalova (Übers.), Hanser 2021, 318 S., 22 €

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