Sachbücher des Monats: Im anderen den Menschen (an)erkennen
Sachlich richtig Prof. Erhard Schütz liest für unsere Leser:innen Sachbücher der Stunde und übt sich diesmal in reizvoller Spekulation – darüber etwa, was wäre, wenn Humanismus kein Traum der Menschheit bliebe
Was wäre geworden, wenn? Hält man es nicht mit der Fahrradkette, bleibt es eine reizvolle Spekulation. Wenn zum Beispiel Robert Blum nicht 1848 bei Wien hingerichtet worden wäre. (Ein weiterer 9. November in der deutschen Geschichte. Und einen Tag vor Blums 41. Geburtstag.) Die Lebensgeschichte dieses Märtyrers der Demokratie, vorzugsweise vor 1848, hat Ralf Zerback meinungs- und wortgewaltig schon 2007 erzählt.
Nun neu aufgelegt und aktuell. Der gebürtige Kölner, Schulabbrecher aus Geldnot, in unterschiedlichsten Berufen quer durch Deutschland, sich autodidaktisch bildend, am Kölner Theater Mädchen für alles, der Wahlleipziger wurde, dort wieder am Theater arbeitend, publizierend und politisierend. Führender Kopf des Paulskirchenparlam
Kopf des Paulskirchenparlaments, nahm Blum am gescheiterten Wiener Oktoberaufstand teil. Bei allem deutschkatholischen Pathos, so Zerback, blieb er Kosmopolit. Sein Tod machte ihn zum Mythos, der später verblasste. Gut, ihn aus der Vergessenheit zu holen!Oder was, wenn Rudolf Herrnstadts Versuch 1953 gelungen wäre, Ulbricht zu entmachten, und er nicht in die chemieverseuchte Provinz nach Merseburg verbannt worden wäre, seine Töchter mit. Die ältere, Irina Liebmann, hat spät ihrem Vater ein Buchdenkmal gesetzt, das 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und nun – durchgesehen und ergänzt – noch einmal erschienen ist. Mal distanziertere Biografie, mal dichterisch dichtes Memoir, erzählt und reflektiert sie das wahrlich abenteuerliche Leben dieses Sprosses einer jüdischen Bürgerfamilie aus Oberschlesien, der 1924 nach Berlin ging, um Dichter zu sein, aber Journalist beim Berliner Tageblatt und heimlich Kommunist wurde, für den Auslandsnachrichtendienst der Roten Armee arbeitete, noch gerade eben im August 1939 in die Sowjetunion fliehen konnte, eine Russin heiratete und anders als die deutschen Funktionäre Russisch lernte, Denunziationen und Terror überlebte, 1945 in Berlin am Aufbau des (Ost)Berliner Pressewesens maßgeblich beteiligt war, Chefredakteur des Neuen Deutschland wurde, glühend an der Sowjetunion festhielt, aber zugleich immer kritischer war gegenüber der Parteidiktatur, bis eben 1953 die andere Seite die Oberhand behielt.Oder wenn Christiania, von Hippies und Linken 1971 in Kopenhagen gegründet, weiterhin der realisierte Traum von selbstverwalteten Autonomiezonen wäre und nicht Schauplatz von Gangkriegen und Dealermorden? Der Historiker Detlef Siegfried geht in Alternative Dänemark der Geschichte von Christiania nach, aber weit darüber hinaus, geht ein auf Dänemark als weiland Exil für Rudi Dutschke, auf die Anstöße zur sexuellen Liberalisierung von dort ebenso wie auf das Roskilde-Festival, Alternativtourismus und alternative Energiegewinnung wie Bildungssysteme. Doch stellt selbst dieses breite Spektrum nur eine Seite seines Interesses dar, dessen andere den eigentlichen Fokus ausmacht: Dänemark als Vorbild und zugleich Gegenstand des Kosmopolitismus im bundesdeutschen Alternativmilieu. Ohne dabei die Kehrseiten von Nationalismus und Rassismus auszublenden. Aus immensen Quellen gearbeitet, klar durchdrungen und aufgebaut, rekapituliert sein Buch einen zentralen Strang der Jahre 1965ff, der sich längst im Mainstream verzweigt hat. Sein Fazit ist durchaus kritisch – Kosmopolitismus im Konsum ja, aber schon im politischen Aktivismus nur begrenzt.Wenn schließlich Humanismus kein menschheitlicher Traum, sondern menschlicher Alltag würde? Tzvetan Todorov hat den Humanismus als „ein zerbrechliches kleines Boot“ bezeichnet, „das uns nur zu einem zerbrechlichen Glück führen kann“. Alle anderen Vehikel seien entweder für Superhelden oder überladen mit Illusions- und Versprechensfracht. „Ich habe mehr Vertrauen in die humanistische Barke.“Sarah Bakewell setzt das ans Ende ihres fulminanten Durchgangs durch die Geschichte des Humanismus, „ein bisschen nebulös“, was der denn genau nun sei – und daher als Geschichte von Humanisten erzählt. Mit Seitenblicken auf die Antike, auf den Konfuzianismus oder den afrikanischen Ubuntu-Gedanken, vorzugsweise in der europäischen Tradition seit dem 14. Jahrhundert. Da waren es fast nur Männer, Petrarca und Boccaccio zum Beispiel. „Frauen: Wenn es doch zu jener Zeit nur mehr gegeben hätte, um von ihnen zu erzählen!“ Doch spürt sie einige auf, erst einmal Laura Cereta und Cassandra Fedele, dann immer wieder die eine oder andere. Indes, der rote Faden läuft weiterhin an Männern entlang. Pico della Mirandola mit seinem Manifest der florentinischen humanistischen Weltsicht, dazu die wissbegierigen Botaniker und Anatomen der Renaissance, Hauptstücke bei Erasmus von Rotterdam und Montaigne, dem sie zuvor schon ein feines Buch gewidmet hatte, die französischen Aufklärer, Voltaire und Diderot, die englischen Gegenstücke Shaftesbury, Bayle und Hume, „der Gnadenlose und Liebenswürdige“.Zunehmend schwenkt das nach England und dann auf die USA, immerhin auch Wilhelm von Humboldt, – und zunehmend nun auch Frauen, Mary Wollstonecraft, Harriet Taylor Mill, Mary Ward, dazu Verwissenschaftler wie Huxley oder Russell. Oder Ludwik Zamenhof, der durch Esperanto die Menschheit einen wollte, dessen Nachkommen indes fast alle von den Nazis umgebracht wurden. Esperanto – eins der zahllosen humanistischen Projekte, die an der Realität zerschellten und doch das Prinzip Hoffnung aufrecht hielten. Freies Denken und Wissbegier ohne Jenseitsgebote und Tabus, die Würde der Einzelnen und ihre Freiheit zur kosmopolitischen Verbindung miteinander, Hoffnung nicht zuletzt auf das gegenwärtige Glück.So schreibt sie das fort bis in die jüngste Gegenwart. Angesichts dieser ist mir ein Zitat besonders nachgegangen. Erasmus, 1519: „Was nicht beliebt, was man nicht versteht, ist Ketzerei. Griechisch zu können, ist Ketzerei. Sich gewählt ausdrücken zu können, ist Ketzerei. Was sie selbst nicht tun, ist Ketzerei!“ Im je anderen den Menschen (an)erkennen zu wollen – eine der ewigen Ketzereien des Humanismus.Und zum Abspann ein Bestenswisser, der zudem mit seinen Weistümern nicht auf den Senkel, sondern in die Ganglien geht. Nicht wie in Tarantinos Reservoir Dogs, sondern fein auseinanderfaltend. Welch Nerd! Natürlich muss Jens Foell sein Wissen in just 42 Kapitel verpacken, greift nach den Sternen und in die Vollen, kommt von der Keilschrift auf ewig lebende Zellen, von World of Warcraft nach Stonehenge, von den arabischen Zahlen zu Jurassic Park. Unterhaltsames von Dingen, Geschehnissen und Gedanken, von scheinbar abseitigsten Kuriositäten zu großen Wissenschaftsfragen und zurück. Dosiert genossen, ist das phantastische Hirnnahrung!Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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