Als Thomas Wolfe 1926 nach Deutschland kommt, sieht er stiernackige Hunnen, biersaufende Ekelfratzen. Doch die leben in allerlieblichster Landschaft aus Natur, Fachwerk, Kunst der Klassik und Romantik. Ein Schwärmer für Rhein und Wälder offenbart sich in den Notizen, Briefen, Artikeln. „Deutschland“, schreibt er an die Mutter, „ist ein wunderschönes und interessantes Land.“ Nun ist er hier allerdings auch, so an einen Freund, überall „der erklärte Liebling“. Der Schriftstellerstar. Das bleibt bei seinen diversen Aufenthalten so, bis zu seiner endgül-tigen Ausreise 1936. Er besucht die Wartburg, Wittenberg, Weimar, den Harz. In Frankfurt am Main ist er fasziniert vom „Labyrinth der alten Häuser“. Selbst in Berlin findet er „Freundliches, Freundschaftliches und Heimatliches“. 1935 notiert er, mehr fasziniert als besorgt, wie begierig die Dienstboten vorm Radio hängen, um Hitler zu hören. Im „friedlichsten, hübschesten und am freundlichsten wirkenden Land“ ist man jedoch enthusiasmiert von einem „Glauben an eine fatale und zerstörerische Sache“. Die Olympischen Spiele faszinieren ihn. Erst eigentlich in seiner Er-zählung, am Schluss dieses nach allen Regeln der Kommentierungs- und Erläuterungskunst feinst besorgten Bandes, eine Erzählung, die noch heute in jedem Lesebuch einen besonderen Platz fände, bündelt er seine Eindrücke und Erfahrungen zu einer bitteren Abrechnung, die auch die eigenen Vorurteile nicht unverschont lässt. Nun will ich Ihnen was sagen, lautet ihr Titel.
Da Wolfe vor allem Bahn fuhr, spielte die Autobahn, anders als beim jungen Kennedy, in seinen Elogen auf Deutschland keine Rolle. So grandiosisiert sie damals wurde, zumal als „Straßen des Führers“, so banal und ärgerlich erscheint sie heute angesichts der Überfüllung mit Lkws, der maroden Strecken, der Baustellen und der Sichtblenden. Ohne solche hat sich Michael Kröchert auf ihr umgetan. 16 Touren kreuz und quer durchs Land. Er beginnt mit einem Relikt aus der Nazizeit, einer Unterführung ohne Autobahn. Dort endet das Buch auch, mit der Frage der kleinen Tochter, wozu man ein Buch über die Autobahn brauche. Nun, scheint mir, damit sie sichtbar wird, die man sonst nur widerwillig sehen will. Er hält bei der Au-tobahnpolizei, steht im Ruhrgebietsstau, erinnert sich schluchzend an die Jugend an und auf der Autobahn, sucht Jörg Fauser, besucht eine Autobahnkirche. Ist das nun die Autobahn, das mysteriöse Wesen? Was man aber wissen kann: Es ist dies ein höchst anregendes Buch, das ihr ziemlich auf den Beton rückt!
Die Autobahn spielt auch für Sammer Tannous keine große Rolle; sie ist ihm lediglich einmal mehr Beleg für deutsche Ungeduld. Der Syrer, der zusammen mit seinem „Integrationscoach“ beim Spiegel eine beliebte Serie von Blitzlichtern auf deutsche und arabische Gewohnheiten verfasste, liefert mit deren Sammlung nicht nur einen versöhnlichen Neugierblick auf das, was ihm jetzt Heimat sein soll, sondern auch einen Beleg dafür, dass man als fremd Gekommener bei solcher Unternehmung zur Erklärung ihres Landes mehr als nur die Wahl hat, he-rumzukaspern oder zu verfluchen. Allein deshalb ist das Buch in seiner dezenten Art lesenswert, ganz abgesehen von den vielen Wahrheitssplittern, die es aufblitzen lässt.
Mögen ihm jene Erfahrungen erspart bleiben, von denen Michel Abdollahi berichtet. Der Deutsch-Iraner, in den Medien präsent als vorbildlicher Neudeutscher, schreibt bitter, aber – noch nicht – verbittert über sein Leben im gesellschaftlichen Shift nach rechts. „Integriert man sich, ist man ein Einzelfall. Hilft man anderen, ist man ein Einzelfall. Macht man was falsch, ist die Kultur schuld. Integriert man sich nicht, werden alle in Sippenhaft genommen. Wir waren Deutsche, wenn wir Erfolg hatten, und Migranten, wenn wir Fehler machten.“ Es scheint seine Quintessenz seines Lebenslaufs insbesondere in den Jahren seit 2015.
Man kann wie Phileas Fogg die Welt umrunden, wie Jens Mühling das Schwarze Meer, wie Wolfgang Büscher Deutschland oder wie Paul Scraton Berlin. Immerhin 180 Kilometer. Martin Sonneborn hat das zwar schon 2008 getan, aber für eine polemische „Heimatkunde“ als Film. Paul Scraton hat andres in Sinn und Blick. Er sieht vor allem die Übergänge, im Grenzverlauf von Stadt und Umland. Er durchquert jene Siedlungen, in denen sich Urbanes und Ländliches kreuzt, rurban genannt. Eine Straßenquerung reicht, um von den „edgelands“ des 21. ins 18. Jahrhundert zu gelangen, vom Automatencasino zum Vierseitenhof. Gelände und Gebäude nimmt er auf, porträtiert Menschen, hält Momente fest. Das alles weniger als Reporter denn als Essayist, ein mit Neugier, Aufmerksamkeit und vor allem Kenntnis gut instrumentierter.
Info
Eine Deutschlandreise. Literarische Zeitbilder 1926 – 1936 Thomas Wolfe Oliver Lubrich (Hrsg.), Manesse 2020, 410 S., 25 €
Autobahn. Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum Michael Kröchert Tropen 2020, 243 S., 20 €
Kommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme). Versuche, meine neue deutsche Heimat zu verstehen Samer Tannous, Gerd Hachmöller DVA 2020, 239 S., 18 €
Deutschland schafft mich. Als ich erfuhr, dass ich doch kein Deutscher bin Michel Abdollahi Hoffmann und Campe 2020, 254 S., 18 €
Am Rand. Um ganz Berlin Paul Scraton Ulrike Kretschmer (Übers.), Matthes & Seitz 2020, 207 S., 22 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.