Von Superlativen ist die Digitalisierungsdebatte geprägt: Es geht um maximale Schnelligkeit, grenzenlose Verfügbarkeit und optimale Zugangsbedingungen für möglichst viele. Digitale Infrastrukturen sollen soziale, ökonomische und politische Ungleichheit wie von selbst zum Verschwinden bringen. „Digital first, Bedenken second“ – dieser Slogan, der der FDP im Bundestagswahlkampf 2017 viel Kritik und Spott einbrachte, mag in seiner optimistischen Naivität eine Randposition bilden. Er ist aber insofern charakteristisch für Digitalisierungsdebatten insgesamt, als deren Fokus häufig auf Fragen der technischen Ausstattung liegt.
Neueste Technik soll garantieren, dass die „selbstständigsten, kritischsten, gebildetsten, kreativsten, entscheidungsfreudigsten oder wenigstens produktivsten Subjekte“ ausgebildet werden, meint Heiko Christians in seinem Buch Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung. Für den Potsdamer Medienwissenschaftler ist dieser kritische Befund ein Anlass, Geschichte und Tradition der Bildung erneut in den Blick zu nehmen. Er fragt, was diese „einst buchgestützte“ Idee unter digitalen Bedingungen noch sein kann. Denn mit dem Medienwandel stehe „eine identitätsbildende Tradition auf dem Spiel“. Christians’ Pointe ist, dass man dieses identitätsbildende Moment nicht ausschließlich an Inhalten oder Konzepten festmachen kann. Bildung ist nicht einfach die Summe des Bewahrens- und Wissenswerten, sondern zunächst eine spezifische kulturelle Technik: „Die deutsche Bildungsidee, wie sie um 1800 ... ausformuliert worden ist, war und ist im Kern eine Methode, ein Set von koordinierten Techniken.“
Der technische Blick erlaubt es Christians, Vergleiche zu ziehen und scheinbar neueste Phänomene medienhistorisch einzuordnen. Sein Buch präsentiert sich als Inventur des aktuellen bildungspolitischen Vokabulars – von der Bildungs-App bis zur Bildungsregulierung – und als Befragung der zugehörigen Kulturtechniken (etwa applizieren, fabrizieren, kompetent sein) auf ihre Bedeutung und Herkunft.
Bildung als Methode war um 1800 in erster Linie ein bildendes Lesen, die wiederholte, verstehende Lektüre weniger kanonischer Texte. Es entstand in einer Zeit, in der die Romanproduktion explodierte: Rasches, einmaliges Lesen vieler Bücher wurde zur Normalität. Die langsame, verstehende Wiederholungslektüre grenzte sich von dieser Unterhaltungslektüre ab, blieb aber zugleich auf sie angewiesen: Die Forderung nach der konzentrierten Beschäftigung mit wenigen auserlesenen Büchern war überhaupt nur im Kontext einer „schnelleren medialen Umgebung“ möglich. Bildungsromane wie Goethes Wilhelm Meister verdankten ihren Erfolg denselben medialen Infrastrukturen wie die sogenannte Trivialliteratur.
Diskussion über Praktiken
Mit dem Programm der Bildung verbanden sich „unwahrscheinliche Umgangsweisen mit Texten“, die „bestimmte Wirkungen auf die Person“ ermöglichen sollten, nämlich Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, die die Ausbildung selbsttätiger Individuen beförderten.
Ein derartig bildendes Lesen ist laut Christians unter digitalen Bedingungen nur noch schwer zu realisieren. Persönlichkeitsbildung ist zwar noch immer ein Ziel von Bildungsprogrammen, aber ans Buch ist sie nicht mehr gekoppelt. Mit den Medien haben sich die Gebrauchspraktiken verändert. Bildendes Lesen zielte darauf, „kurzzeitige Aufmerksamkeit und Wahrnehmung in längerfristiges Verstehen“ zu verwandeln. Es setzte voraus, dass man eine Auswahl traf, deren Kriterien reflektiert werden konnten.
Ganz anders im digitalen Zeitalter: Digitale Techniken versprechen einen umfassenden Zugriff auf alles verfügbare Wissen in kürzester Zeit. Selektion, Bewahrung und zeitintensive, wiederholte Lektüre sind dieser Logik fremd. Wo dennoch eine Auswahl stattfindet, wird sie an Algorithmen oder Dienstleister abgegeben, die – wie die App Blinkist, die Sachbücher so zusammenfasst, dass man ihre Hauptgedanken in unter einer halben Stunde nachvollziehen kann, (der Freitag 11/2020) – Bildung in schnell verdauliche Portionen zuschneiden.
Die Antwort darauf kann für Christians aber nicht in der Rückkehr zu vordigitalen Verhältnissen liegen. Bei aller Kritik an „selbst ernannten Medienphilosophen“, „abstraktionswilligen Pädagogen“, „empirisch gestählten Psychologen“ und „geschäftstüchtigen Auftragsgutachtern“ verfällt Christians an keiner Stelle in platte Kulturkritik oder Nostalgie. Die Stärke seiner „Inventur“ liegt darin, dass sie differenziert argumentiert, die aktuelle Forschung berücksichtigt, dabei aber stets unterhaltsam bleibt und durch polemische Spitzen und pointierte Beobachtungen großes Lesevergnügen bereitet.
Was also ist der Rat des Medienwissenschaftlers? Eine „Diskussion über die gängigen Medienpraktiken“ muss in den Bildungsinstitutionen etabliert werden. Die Geschichte medialer Formate und Praktiken – auch, wie man analoge Bücher liest und versteht – und die Geschichte der Netzwerkmedialität müssen neben Programmieren auf den Lehrplan gesetzt werden. Erst über einen verstehenden und historisierenden Blick auf aktuelle Techniken werde es möglich, wieder jene verlangsamende „Reflexionsspanne“ in die Institutionen einzubeziehen, die einmal Bildung hieß.
Info
Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung Heiko Christians Böhlau 2020, 426 S., 35 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.