Leben, Wandel, Lernen

Dänemark Hinter den Mauern einer dänischen Volkshochschule verbergen sich neue Lebenswege. Was uns heute als Lebenslanges Lernen bekannt ist, geht auf Grundtvig zurück

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Spiritualität und Erwachsenenbildung lassen sich gedanklich nicht voneinander trennen. Einen Beweis dafür liefern die dänischen Volkshochschulen, die dem Wunsch nach Selbstfindung einen institutionellen Rahmen verleihen. Lernen – sowohl als Reifeprozess als auch als Wissenserwerb - zieht sich als roter Faden durch Biographien ohne dabei an soziokulturelle Grenzen zu stoßen: Dieser Ansatz geht auf den dänischen Philosophen und Gründer der Volkshochschulen Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783-1872) zurück.

Gleichzeitig Historiker, Pfarrer, Pädagoge, Schriftsteller und Politiker stellte er kritisches und reflektiertes Denken in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Der Zeitgenosse SørenKierkegaards (1813-1855) strebte eine Gesellschaft an, deren geistige Wurzel nicht ausschließlich der Universitätselite entspringt. In Grundvigs Vision besaß jeder Mensch Zugang zu Bildung, begriff sich als selbstständiges Individuum und gestaltete demokratische Prozesse im Sinne der Aufklärung.

Grundtvigs Geburtstag liegt bereits 233 Jahre zurück. Seine Gedanken besitzen einen zeitlosen Einfluss auf die Suche nach dem Ich, die sich nicht nur auf persönlicher Ebene abspielt. Sie konstituiert auch das Fundament für Institutionen, die der Sinnreise vieler Menschen Zeit und Raum verschaffen. Neben einem Grundtvig gewidmeten EU-Programm, das insbesondere Lehrpersonal Auslandsaufenthalte und Fortbildungen ermöglicht, bereichert „Lebenslanges Lernen“ ebenso nationale Einrichtungen: die Volkshochschulen.

In Deutschland entstand mit der Humboldt-Akademie 1879 eine erste Bildungsstätte im Sinne des dänischen Wegbereiters. Wissenschaftliche Erkenntnisse galt es “volksnah” für das nicht akademisch gebildete Bürgertum zu veröffentlichen. Nach dem zweiten Weltkrieg lag der inhaltliche Schwerpunkt vor allem darauf, nationalsozialistisches Gedankengut durch demokratische politische Bildung zu ersetzen.

In Dänemark öffnete die erste Volkshochschule im Jahr 1844 in Rödding (Rødding) ihre Pforten. Aktuell existieren im kleinen skandinavischen Land mit rund 6 Millionen Einwohnern 70 Volkshochschulen (Folkshøjskolerne). Die pädagogische Herangehensweise weist einen Vorbildcharakter auf. Obwohl von Grundtvigs ursprünglichen Absichten ein wenig entfernt, nimmt Selbstfindung weiterhin einen zentralen Platz ein. In der Welt des 21. Jahrhunderts öffnen sich für seine Ideen vollkommen neue Handlungsfenster.

Sich eine Auszeit gönnen: Was auch in Deutschland zunehmend an Popularität gewinnt und oft ins Ausland führt, fügt sich in Dänemark wie selbstverständlich in Lebensläufe ein. Noch dazu häufig im eigenen Land, dessen Kerngebiet eine Fläche etwas größer als Baden-Württemberg besitzt und dessen Menschen, laut World Happiness Report der Vereinten Nationen, zu den glücklichsten überhaupt zählen.

Der durchschnittlich drei bis sechs Monate währende Aufenthalt an einer dänischen Volkshochschule gestaltet sich folgendermaßen: Sowohl Studenten als auch Lehrende verbringen täglich 24 Stunden miteinander und begegnen sich auf Augenhöhe. Zumeist befinden sich die Gemäuer der Volkshochschulen abgeschieden in der Natur. Bewertung spielt keine Rolle. Es geht vielmehr darum, Talente und unbekannte Welten zu entdecken.

Ein politischer Debattierklub, Improvisationstheater, Poker, kreatives Schreiben, Rugby – Das Themenspektrum deckt unzählige Bereiche ab. Die Studenten der Volkshochschule lernen gemeinsam, individuell und füreinander. Wissen, so eine bedeutsame Lehre, beschränkt sich nicht auf Fakten. Lernen bedeutet stets, kritisch zu hinterfragen und Bildung verpflichtet, Wissen sowohl zu teilen als auch anzuwenden.

Die Gesellschaft wächst an Menschen, die sie in Frage stellen und Veränderungen nicht scheuen, sondern vielmehr gestalten – lautet die Botschaft an die Studenten. Stringenz tritt in modernen Biographien immer seltener auf. Moderne Lebensläufe zeichnen sich durch viele Weggabelungen und überraschende Neubeginne aus. Dänische Volkshochschulen bieten den Kontext für solche Wendepunkte.

Werdegänge führen durch verschiedene Länder, persönliche Lebenskonzepte und berufliche Tätigkeiten. Hinter dem Begriff Lebenslanges Lernen steckt also viel mehr als Leistungsdruck oder Anpassung an den Arbeitsmarkt. Lebenslanges Lernen funktioniert als tandemartiges Zusammenspiel von geistiger Stärke und festem Fundament, wobei letzteres den Selbstfindungsprozess nur anstößt, jedoch keinesfalls vollständig lenkt. Vielmehr schwebt der freie Geist in ungeahnte Höhen und fließt in einen unerschöpflichen Ozean.

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