Ukrainischer Regisseur Stas Zhyrkov: „Ich weine bei fast jeder Probe“
Im Gespräch Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov will die Kultur seines Landes stärken und Propaganda der Menschlichkeit betreiben. In Mannheim läuft derzeit sein Stück „Tell. Eine ukrainische Geschichte“
Stas Zhyrkov verließ kurz nach der russischen Invasion mit einer Sondergenehmigung des ukrainischen Kulturministeriums sein Land. Jetzt inszeniert er an deutschsprachigen Theatern aufwühlende Abende, die vom Schicksal der Ukraine erzählen. Bei den Proben zu Tell. Eine ukrainische Geschichte für die Schillertage am Nationaltheater Mannheim ließ sich beobachten, wie konzentriert er arbeitet: Szenische Abläufe werden bis ins kleinste Detail eingeübt, bis sie die Wirkung erzielen, die ihm vorschwebt. Oft fließen Tränen, dann geht es weiter. Im Theater von der Ukraine zu erzählen, das fühle sich an, wie eine Operation durchzuführen, sagt er. Es ist anstrengend, aber der Patient muss am Leben bleiben.
der Freitag: Herr Zhyrkov, Sie sind
der Freitag: Herr Zhyrkov, Sie sind ein mehrfach ausgezeichneter Regisseur, waren vor Ihrer Flucht Intendant des Kiewer Left Bank Theatre, das als spannendstes Theater der Ukraine galt. Wie sind Sie überhaupt zum Theater gekommen?Stas Zhyrkov: Ich glaube, die Magie meiner Geschichte, wenn man so will, liegt darin, dass ich Theater überhaupt nicht kannte. Ich war eher so ein typischer Klassenclown, und es war immer toll für mich, wenn über meine Witze gelacht wurde. Ich hatte damals große Verhaltensprobleme, zumindest sahen die Lehrer das so. Und dann gab es in den Ländern der ehemaligen Sowjetrepublik Wettbewerbe für die „Klugen und Lustigen“, bei denen Teams mit ihren Sketchen auf der Bühne gegeneinander antraten. Das waren meine ersten Erlebnisse, bei denen ich ein Gefühl für die Bühne bekam.Ich habe den Eindruck, dass ukrainische Theatermacher*innen im Exil gerade nach den Wurzeln der ukrainischen Avantgarde suchen und diese wiederentdecken, zum Beispiel den Theater-Avantgardisten Les Kurbas, für den Theater ein machtvolles politisches Instrument war und der 1937 vom sowjetischen Regime ermordet wurde …In Bezug auf ukrainische Identität müssen wir verstehen, dass 1937 wirklich ein dunkles und blutiges Jahr für unsere Kultur war. Als 1937 die Machthaber der Sowjetunion die gesamte ukrainische Intelligenzija umbrachten, wurden alle vernichtet, die neue Ideen hatten, die mit der Welt oder mit Europa verbunden waren, die neue Dialoge in Gang gesetzt hatten. Davor gab es den Holodomor von 1931 bis 1934, bei dem sieben Millionen Menschen, vor allem Bauern und Dorfbewohner, gezielt ausgehungert wurden. 1941 brachten die Deutschen im Massaker von Babyn Jar fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Landes um. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Teil ukrainischer Geschichte die Identifikation mit dem Land vollständig zerstört hat. Mein Gefühl ist, dass wir jetzt nicht diejenigen sind, die wir hätten sein können. Dieser Gedanke hat sehr viel mit mir zu tun, denn ich habe in meiner Vorstellungskraft immer schon ein anderes ukrainisches Theater versucht, ersehnt und erträumt.Und jetzt müssen Sie im Exil arbeiten …Ja, das ist jetzt alles viel schwieriger, weil die Distanz immer mehr zunimmt. Ich glaube aber, dass wir ein komplett neues Land aufbauen müssen. Natürlich ist gerade Krieg, und den müssen wir erst mal gewinnen. Wann und wie wir aber den Weg der Veränderung einschlagen können, den wir einschlagen müssen, wenn wir Teil der EU werden wollen – das beschäftigt mich gerade am meisten. Wenn ich über eine Zukunft meines Landes nachdenke, bedeutet Kultur für mich Identifikation und die wiederum bedeutet den Schutz des Landes. Das ist mir jetzt erst klar geworden.Sie sagen also, man muss die ukrainische Kultur im Grunde neu erfinden?Wir müssen fast alles niederreißen. Alles, was es jetzt an ukrainischer Kultur gibt, wurde in sowjetischer Zeit aufgebaut. Wir brauchen eine Art Dekolonisation, ein Verlernen dessen, was wir noch als Kultur verstehen. Wir müssen das System verändern, sonst malt man nur die Wand neu an, aber die alte Wand bleibt noch bestehen.Wie sind Sie nach der Invasion aus der Ukraine geflohen und wie kam es dazu, dass Sie jetzt an deutschsprachigen Theatern inszenieren?Ich habe mit meiner Frau Ksenia Romashenko und meinem elfjährigen Sohn in der Nähe von Butscha gelebt. Eine Rakete hat unser Haus getroffen, dabei hätten wir beinahe unser Leben verloren. Wir sind dann erst mal nach Litauen geflohen, nach Alytus, das ist eine mittelgroße Stadt in der Nähe von Vilnius. Meine Frau Ksenia ist dort künstlerische Leiterin des Alytus Theaters geworden, ist jetzt also in einer guten Position. Ich selbst hatte eine Sondergenehmigung vom ukrainischen Kulturministerium, damit ich das Land verlassen kann. Danach ging ich nach Deutschland, um hier an verschiedenen Theatern zu arbeiten.Sie hatten auch schon 2016 und 2018 am Theater Magdeburg inszeniert.Ja, das war eine gute Gelegenheit für mich, eine andere Theaterkultur kennenzulernen. Es hat sehr viel in meiner Herangehensweise verändert, und ich habe versucht, diese auch in meine Arbeitsweise einzubringen. Ich hatte also schon einige Verbindungen nach Deutschland, und ich wollte immer hier arbeiten, weil es für mich sehr interessant ist.Was ist so interessant?Die Bedingungen, unter denen man arbeitet, sind sehr viel besser. Es gibt sehr viel mehr Ideen, was man machen kann und wie Theater zugänglicher wird. Es herrscht allgemein eine größere Offenheit, was sehr wichtig für mich ist.Kurios, dass Sie das so sehen. Aus deutscher Sicht wird das Stadttheatersystem oft kritisiert.Wofür denn?Zum Beispiel für seine immer noch sehr vertikalen Machtstrukturen.Ich erlebe hier sehr viel teamorientiertes Arbeiten. Ich glaube, Ihr vergesst, wie alles vor 20 Jahren war. Arbeitet mal in post-sowjetischen Ländern, da bekommt man ein Gefühl für „vertikale Machtstrukturen“! Ich sehe hier ein ganz anderes Problem, nämlich Stadtgesellschaften, die gar kein Interesse daran haben, sich einer diverseren Kultur zu öffnen. Die Aggression, die in Bezug auf diverses Theater von einigen Kritikerinnen oder Theaterspezialisten ausgeht, offenbart doch, dass das deutschsprachige Theater gar nicht so viel Freiheit besitzt. Das zeigt die Situation an den Münchner Kammerspielen oder am Schauspiel Zürich.Beiden Häusern wurde vorgeworfen, zu „woke“ zu sein, in Zürich mussten sogar die Intendanten gehen.Man muss natürlich über die Programmatik von Theatern sprechen – besonders nach der Pandemie, besonders in Kriegszeiten –, aber die mangelnde Freiheit ist definitiv ein Thema. Und das kommt aus einem Bewertungsdenken. Aber wer will Kunst schon bewerten? Es geht doch nicht ums Toreschießen, wir sind ja nicht im Fußball. Les Kurbas hat gesagt: „Theater muss heute so sein, wie das Publikum von morgen sein müsste.“Hat die Flucht aus der Ukraine verändert, wie Sie Theater machen? Sie bringen Geschichten aus der Ukraine auf die Bühne, haben Sie eine Mission?Ich glaube, als Theatermacher habe ich mich nicht verändert. Natürlich entwickelt man sich, man wird älter und erfahrener. Theater kann den Krieg nicht stoppen und es gibt dir auch keine Waffe in die Hand. Aber Theater kann eine Erfahrung sein, die dir Empathie schenkt. Das ist für mich das Wichtigste. Und ja, meine Mission ist – dieses Wort ist in Deutschland nicht sehr beliebt, aber deswegen benutze ich es sehr gern –, Propaganda zu verbreiten. Eine Propaganda der Gnade und der Menschlichkeit. Eine Propaganda in Zeiten des Krieges, wo der Feind in allem mehr Macht hat – auch in der Deutungshoheit.Glauben Sie, es gibt im Bereich des Theaters russische Deutungshoheiten?Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov hat schon drei Inszenierungen in Hamburg gemacht. Zu einem Zeitpunkt, an dem er auch etwas anderes machen könnte. Ich bin nicht dafür, russische Künstler*innen zu canceln. Aber wenn Leute zu mir sagen: Was soll ein russischer Theatermacher denn tun, er ist Oppositioneller, er war doch im Gefängnis und hat unter den Repressalien gelitten? Dann würde ich erstens antworten, dass er zum Beispiel seine Position an eine ukrainische Regisseurin geben könnte. Er könnte doch sagen: Ich glaube, meine Stimme ist gerade nicht so wichtig wie die ukrainische. Zweitens: Russland betreibt diese Vorgänge nicht erst seit Kurzem. Es hat immer schon Territorien besetzt, es verhält sich wie ein Imperium.Man könnte also auch aus russischer Sicht sagen: „Okay, ich beschäftige mich bewusst mit diesen Vorgängen Russlands, ich wechsle wirklich die Perspektive. Ich mache zum Beispiel ein Stück über die Mari, eine ethnische Minderheit, deren Sprache und Kultur durch Russifizierung fast vollständig ausgemerzt wurde.“ Dann, würde ich sagen, hätten die Künstler ihre Verantwortung wahrgenommen. Aber nicht, indem ich mich als Opfer des Regimes darstelle. Das ist mein Anspruch an alle liberalen Künstler*innen Russlands. Es wird nur funktionieren, wenn auch sie anfangen, die imperialen Traditionen ihres Landes anzugreifen. Wenn das auch irgendwann von westeuropäischen Ländern verstanden wird, dann kann es in Zukunft einen Dialog zwischen den liberalen russischen und ukrainischen Künstler*innen geben. Dann könnten wir eine Gegenpropaganda entwickeln. Aber jetzt habe ich mich in Rage geredet, wie war noch mal die Frage?Die Frage war, ob Ihre Kunst sich durch den Krieg verändert hat.Ich glaube, das Einzige, was wir im Theater machen können, ist auf der Bühne zu sagen, wir sind auf eure Hilfe und euer Verständnis angewiesen. In meiner Inszenierung Antigone in Butscha am Schauspielhaus Zürich fährt eine Schweizer Kriegsfotografin nach Butscha und lernt dort eine ukrainische Frau kennen, mit der sie sich anfreundet. Das ist die Idee. Wenn das Publikum denkt: Oh, sie könnte auch meine Freundin sein; dann erreicht die Empathie ein neues Level. Dann wird das Publikum zum Teil der Geschichte. Das ist vielleicht meine Mission in dieser Zeit; die Ukraine dem Publikum hier näherzubringen, damit sie verstehen, wer wir sind und welchen Problemen wir uns stellen müssen.Ist dieser Arbeitsprozess sehr schmerzhaft?Natürlich, ich weine bei fast jeder Probe. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich weine und dann denke ich, okay, jetzt machen wir weiter, denn diese Arbeit ist notwendig. Außerdem gibt es bei uns auch viel Humor. Das brauchen wir auch. Wenn wir ständig nur zusammenbrechen würden, wären wir innerhalb einer Woche tot.Placeholder infobox-1