Abenteuer Barrierefreiheit: eine Fortsetzungsgeschichte

Diskriminierung bei der Bahn Unsichtbar, übersehen, unwillkommen: vier Frauen, zwei Rollstühle, ein Scooter, ein Rollator und ein Assistenzhund reisen mit der Deutschen Bahn.

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Ich bin mit einer Behinderung zwischen den Welten unterwegs (siehe der Freitag, 13.08.22), auf meinem elektrischen Reisescooter und begleitet von meiner Mobilitätshilfe auf vier Beinen: Assistenzhund Oliver. Dieses Jahr sind wir überwiegend mit der Deutschen Bahn gefahren: vom Frankfurter Flughafen nach Herford, von Oldenburg nach Berlin, von Berlin nach Bielefeld, und von Hannover zurück nach Frankfurt. Die Deutsche Bahn ist ja nun schon länger Zielscheibe von Satire, und das nicht ohne Grund. Der DB-Mobilitätsservice ist allerdings vorbildlich – wenn er dann funktioniert. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die unterschiedlichen Rampen bedienen, mit denen Menschen mit Rollstühlen oder Elektroscootern in die Züge kommen, sind ohne Ausnahme geduldig und hilfsbereit. Allerdings reicht der Mobilitätsservice allein nicht aus, um Menschen mit Behinderungen die gleiche Teilhabe am öffentlichen Bahnverkehr zu gewährleisten. Und hier beginnt die Geschichte.

Am 21.05.23 bin ich in Begleitung einer Freundin in Oldenburg (in Oldenburg) in den durchgehenden Intercity nach Berlin gestiegen. Ich hatte wie immer den Mobilitätsservice bestellt; mir war allerdings mitgeteilt worden, dass die Rollstuhlstellplätze bereits vergeben waren und ich die bereits gebuchten Sitzplätze in Anspruch nehmen sollte – was an sich möglich ist, da ich ein bisschen gehen kann und ja auch meine Freundin mit dabei war.

In Oldenburg allerdings wusste niemand von meinem Mobilitätsgesuch, aber glücklicherweise fand sich eine Rampe auf dem Bahnsteig. Nachdem sich der Sitzplatz als unmöglich herausstellte (Wagen mit zwei unterschiedlichen Ebenen, die nur mit Treppen erreicht werden können), durfte ich dann doch in das Abteil mit den Rollstuhlstellplätzen, in dem übrigens sehr wohl noch Platz war: es gab nur eine weitere Frau mit Gehbehinderung, eine Rollstuhlfahrerin. In Bremen kam eine zweite dazu, und nun waren wir mit meiner Freundin und mir zu viert.

Kurz nach Wunstorf blieb der Zug auf unbestimmte Zeit stehen; wegen eines Suizids auf den Gleisen war die Strecke vorübergehend gesperrt. Der Zug kehrte nach Bremen zurück, und uns wurde von dort eine neue Verbindung nach Berlin mit Umstieg in Hamburg zugesichert. In Bremen sollten wir vom Gleis abgeholt und zum neuen Gleis gebracht werden.

Alles so weit, so gut. Für Selbstmorde auf Bahngleisen kann die Bahn an sich ja nichts. Aber nach Rückankunft in Bremen wurden wir drei Frauen mit Mobilitätsproblemen zunächst einmal vergessen – der Schaffner erinnerte sich erst auf seinem Kontrollgang durch die Abteile. Die DB-Mitarbeiterin, die uns eigentlich zum Anschlusszug bringen sollte, hatte keine Ahnung, worum es eigentlich ging. Nach längeren Telefonaten teilte sie uns mit, dass im versprochenen ICE nach Hamburg kein Platz mehr sei und die Hamburger Kollegen wegen Personalmangel auch keine Mobilitätshilfe leisten könnten. Aber wir sollten doch am besten schnell noch den Metronom nach Hamburg nehmen, drängte sie uns, der sei nämlich auf gleicher Bahnsteighöhe und würde in wenigen Minuten abfahren. Wie es dann in Hamburg weitergehen sollte, konnte sie uns allerdings nicht sagen. Wir weigerten uns auf Verdacht hin loszufahren: uns waren Zug und Anschlusszug zugesichert worden. Widerstrebend nahm die Dame uns zur Reiseauskunft mit, wo man “sich bemühen würde, eine Lösung anzustreben.” (Den Satz muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: man bemühe sich zu streben – aber nicht darum, eine Lösung zu finden?!)

Eine Lösung gäbe es nicht, versicherte uns bei der Reiseauskunft ein zweiter DB-Mitarbeiter: “Sie kommen heute nicht mehr nach Berlin!” Wir sollten besser im Hotel bleiben und am folgenden Tag weiterfahren. Unklar blieb, wie die DB so kurzfristig vier Hotelzimmer organisieren wollte (drei davon barrierefrei), und Plätze im Frühzug konnten auch nicht garantiert werden. Parallel dazu verhandelte meine Freundin telefonisch mit der Mobilitätszentrale, der zufolge es durchaus Züge gab. Ein dritter DB-Mitarbeiter fand dann auch tatsächlich eine Verbindung nach Hannover mit Anschlusszug nach Berlin, beide mit Mobilitätsservice, aber nur – legte er dar –, weil sich ein befreundeter Kollege in Hannover bereit erklärt hätte, selbigen zu übernehmen. Zwei Stunden Wartezeit. Als Trost wurden uns ganze zehn Essensgutscheine in der Höhe von je 2€ überreicht. Die Summe reichte fast für vier belegte Brötchen und vier kleine Quarkbällchen (es mussten noch 50 Cent draufgelegt werden).

In Hannover war von dem angekündigten Kollegen nichts zu sehen. Wir wurden stattdessen von einer DB-Mitarbeiterin in Empfang genommen, die uns freundlich und effizient beim Umsteigen half – von Personalmangel war ihr nichts bekannt. Der Anschlusszug nach Berlin blieb wegen eines medizinischen Notfalls weitere 45 Minuten stehen, und wir erreichten Berlin mit etwa fünfeinhalbstündiger Verspätung um 23:49 Uhr. Bevor die Rampe eintraf, wurden die Lichter im Zug gelöscht.

Diese Geschichte wird nicht erzählt um zu zeigen, dass die interne Informationsweiterleitung der Deutschen Bahn nicht funktioniert oder über Verspätungen zu schimpfen. Das ist bereits Thema von Diskussionsrunden, Blogposts und Satiresendungen. Es geht vielmehr darum, dass wir uns als Menschen mit Behinderungen unsichtbar gefühlt haben: in Bremen wurden wir vergessen und in Berlin wurden die Lichter ausgemacht, während wir noch im Zug waren. Wir fühlten uns übersehen, wir waren ganz klar eine zusätzliche, unwillkommene Belastung, wir wurden immer wieder gefragt, ob wir auch wirklich alle Mobilitätsservice bestellt hätten (Antwort im Chor: „Jaa-ha!‘), es wurde versucht, uns loszuwerden (Metronom) und damit das Problem auf andere Bahnhöfe zu verschieben. Besonders frustrierend war, dass die Mitarbeiter in Bremen ausschließlich mit meiner Freundin verhandeln wollten (der einzigen von uns ohne Behinderung), als ob Menschen mit Gehbehinderungen nicht nur nicht laufen, sondern auch nicht denken könnten.

Logistisch gesehen handelte es sich hier um eine Ausnahmesituation, keine Frage. Aber die Planlosigkeit der ersten Mitarbeiterin und die Unwilligkeit des zweiten Mitarbeiters eine Lösung zu finden, waren schon bemerkenswert. Böse Zungen könnten sogar unterstellen, dass der versprochene Anschlusszug von Bremen nach Hamburg weder voll war noch dass es beim Mobilitätsservice nicht ausreichend Personal gab, sondern dass wir den Zug schlicht verpasst hatten, weil man uns vergessen hatte und das niemand zugeben wollte. Und dann wurden keine bzw. nur unzumutbare Alternativen angeboten, und selbst die letztendliche Lösung erfolgte mit dem Hinweis darauf, dass ein Kollege extra Aufwand für uns betreiben würde.

Menschen mit Behinderungen müssen nicht explizit darauf hingewiesen werden, dass sie mehr Arbeit machen. Das wissen wir selbst. Vielmehr muss hier ein grundsätzliches Umdenken stattfinden, das Menschen mit allen körperlichen und geistigen Attributen wahr- und ernst nimmt. Und daher sollten zur Aus- und Weiterbildung bei der Deutschen Bahn selbstverständliche Schulungen zu Themen wie Teilhabe, Diversität und Inklusion gehören in der Hoffnung, dass sich solche Szenarien nicht wiederholen.

Eine erste, ausführlichere Version dieses Beitrags wurde am 5. Juni mit der Bitte um volle Rückerstattung der Reisekosten an Richard Lutz, den Chef der Deutschen Bahn geschickt. Am 22. Juni kam eine Antwort zurück von zentralerkundendialog@bahn.de mit einer vollmundigen Entschuldigung und, zusätzlich zur Erstattung des halben Fahrpreises, zwei Gutscheinen im Gesamtwert von €140 für meine Freundin und mich. Die vergleichsweise rasche Reaktion der Deutschen Bahn zusammen mit der finanziellen Kompensation ist natürlich sehr erfreulich. Es bleibt jedoch ein gewisses Unbehagen, auch wenn eingeräumt wird, „[…] dass wir noch viel verbessern müssen, gerade wenn die Zugfahrt dann nicht nach Plan läuft […]. Die Informationen müssen zwischen den Bahnhöfen, den Mitarbeitenden im Zug und der Mobilitätsservice-Zentrale schneller weitergegeben werden […].“ Logistisch ist das alles richtig, aber greift zu kurz, denn die Optimierung von Handlungsabläufen und Informationsfluss bedeutet nicht automatisch Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Und wenn das Verhalten einiger Mitarbeitender als „nicht gerade serviceorientiert“ eingestuft wird, lässt diese Formulierung doch offen, ob man sich lediglich bemühen wolle, einen verbesserten Service anzustreben oder ob wahre Barrierefreiheit das Ziel sein soll. Denn die findet in den Köpfen statt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Susanne Even

ist Professorin für Deutsch an Indiana University Bloomington, USA. Mit ihrem Assistenzhund reist sie seit 2021 jeden Sommer durch Deutschland.

Susanne Even

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