Filmfestival in Venedig: „Poor Things“ gewinnt und alle lieben ein durchgeknalltes Biopic
Kino Yorgos Lanthimos‘ feministische Frankensteinvariante „Poor Things“ erhält den Goldenen Löwen, der Regiepreis setzt im rechtsextrem regierten Italien ein wichtiges Zeichen und „Daaaaali“ erweist sich als Publikumshit
Cailee Spaeny hat den Copi Volpi als beste Schauspielerin gewonnen
Foto: Piovanotto / Marco /ABACA / picture alliance / abaca
Es gehört zu den ungeschriebenen Ritualen eines Filmfestivals, dass am Ende Kritik und Jury unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Leistungen preiswürdig sind. In Venedig war man sich in diesem Jahr in vielem erstaunlich einig. Die von Regisseur*innen dominierte Jury unter Vorsitz von Damien Chazelle (LaLaLand), der unter anderem auch Jane Campion, Laura Poitras und Mia Hansen-Løve angehörten, zeichnete am Samstag mit Yorgos Lanthimos‘ Poor Things den frühen Favoriten dieser 80. Ausgabe mit dem Goldenen Löwen als besten Film aus. Der griechische Filmemacher widmete den Preis seiner Hauptdarstellerin und Produzentin, Emma Stone, die als Kreatur eines verrückten Wissenschaftlers durch diese ebenso cineastisch-wilde wie feministische Franke
feministische Frankensteinvariante stakst und tanzt und damit wie der Film selbst gegen Konventionen und Konformismus aufbegehrt, dass es eine wahre Freude ist. Ein zwingender Gewinnerfilm.Der Regiepreis ging an Matteo Garrones Migrationsdrama „Io Capitano“Der Große Preis der Jury und die damit zweithöchste Auszeichnung geht ebenso verdient an den Japaner Rysusuke Hamaguchi für sein elegisches, am Ende unerwartet sperriges Ökodrama Evil Does Not Exist. Mit dem Spezialpreis der Jury wird Agnieszka Hollands Migrationsdrama Green Border ausgezeichnet, ein weiterer Festivalfavorit. Holland erzählt in unmittelbar inszenierten Schwarzweißbildern von der existentiellen Not geflüchteter Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze, den menschenverachtenden Soldaten auf beiden Seiten und den Aktivist*innen, die zu helfen versuchen, so gut es geht.Mit dem Regiepreis prämierte die Jury ein weiteres Flüchtlingsdrama, Matteo Garrone erhielt ihn für Io Capitano, der von zwei Jungs aus einem Dorf in Senegal erzählt, Seydou und Moussa, die von Europa träumen und sich auf den lebensgefährlichen Weg durch die libysche Wüste machen, um dann übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Für das rechtsextrem regierte Italien und die restriktive Migrationspolitik im Land sind der Film und die Anerkennung ein wichtiges Zeichen. Mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als bester Nachwuchsdarsteller wurde zudem Seydou Sarr ausgezeichnet, der in Io Capitano erstmals vor der Kamera stand.Die beiden Copi Volpi für Schauspielleistungen gingen in die Vereinigten Staaten. Als beste Darstellerin wurde Cailee Spaney für ihre Rolle als Priscilla Presley in Sofia Coppolas Priscilla ausgezeichnet, der Preis als bester Darsteller ging an Peter Sarsgaard, der in Michel Francos Drama Memory. Er spielt darin einen an Demenz erkrankten Mann, in dem die Protagonistin des Films einen ihrer Peiniger aus der Schulzeit wiederzuerkennen glaubt. Wie er diesen Saul spielt, der hilflos seinem eigenen langsamen Verschwinden beiwohnt, ist subtil und berührend und ganz anders als Sarsgaards melodramatisch vorgetragene Dankesrede bei der Zeremonie in der Sala Grande, die er weitausschweifend zum Plädoyer für den Streik in Hollywood nutzte, den er vor allem als Kampf gegen den unkontrollierten Einsatz künstlicher Intelligenz sieht, die menschliche Schauspieler*innen und Autor*innen zu ersetzen drohe.„Maestro“, „Ferrari“ und „Poor Things“ bringen sich in Position fürs OscarrennenSarsgaard war einer der wenigen Stars, die mit Sondergenehmigungen der Schauspielgewerkschaft angereist waren, auch seine Filmkollegin Jessica Chastain hatte die Gelegenheit genutzt, auf die Forderungen aufmerksam zu machen. Doch auch ohne die sonst übliche Promidichte auf dem Roten Teppich profilierte sich Venedig erneut als Startrampe für die anstehende Award-Season. Ob Maestro, Bradley Coopers Biopic über Leonard Bernstein, Michael Manns Ferrari über den italienischen Autobauer oder eben Poor Things, sie alle nutzen das Festival am Lido, um sich fürs Oscarrennen in Position zu bringen.Mit dem Drehbuchpreis schließlich wurde Pablo Larraíns Pinochet-Satire El Conde ausgezeichnet, in der der chilenische Diktator als Vampir durch die Geschichte geistert. Es war eine von fünf Netflixproduktionen, die Festivalleiter Alberto Barbera eingeladen hatte. Auch abseits der Juryentscheidungen gab es in der zweiten Festivalhälfte noch Entdeckungen und Highlights, vor allem das Gros der Regisseurinnen war erst in den letzten Tagen programmiert, als viele Branchenbesucher bereits nach Toronto zum dortigen Festival weitergezogen waren. Ein Schelm, wer darin mehr als Zufall vermutet. So gingen zum Endspurt die US-Amerikanerin Ava DuVernay mit Origin, der Verfilmung des Sachbuchs Kaste – Die Ursprünge unseres Unbehagens, und die Belgierin Fien Troch ins Rennen. Letztere verbindet in Holly eine naturalistisch beobachtete Studie über das kollektive Trauma einer Gemeinde nach einer Brandtragödie an einer Schule, bei der zehn Menschen starben, mit der Geschichte eines Teenagermädchens, die scheinbar heilende Kräfte besitzt, in der die Menschen bereitwillig eine Erlöserfigur sehen.Und das Regiepaar Malgorzata Szumowska und Michal Englert schildert in Woman Of… das Leben einer Transfrau und ihres 45 Jahre dauernden Weges zu ihrer wahren Identität, von Adam zu Aniela, eine Transition, die parallel zum Wandel Polens vom Kommunismus zum Kapitalismus verläuft. Wie sich auf Anielas Weg in die Freiheit dabei auch das Umfeld verändert, wie vor allem die Ehefrau ihre Rolle neu definiert, erzählt der Film einfühlsam und unsentimental. Beide polnischen Filmemacherinnen, Szumowska wie Holland, sind mit ihren kritischen Filmen hohe Risiken eingegangen. Holland wurde bereits im Vorfeld vom Justizminister attackiert, der dem Film ungesehen Nazipropaganda vorwarf. Nicht zuletzt deswegen ist die Auszeichnung für Green Border so wichtig. Dabei mahnt Holland nicht nur ihr eigenes Land, sondern ganz Europa zur Verantwortung und zum Handeln. Seit Beginn der Flüchtlingskrise seien 60.000 Menschen ums Leben gekommen, sagte sei bei der Verleihung am Samstagabend, und dass auch jetzt weiterhin Menschen sterben, weil es aus Europa keine Hilfe gebe. „Nicht weil wir nicht können, sondern weil wir nicht wollen.“Klein, aber großes Kino: Das Anti-Biopic „Daaaaaali!“Auszeichnungen für Filme sind auch immer Entscheidungen gegen andere Werke, die von der Jury als weniger preiswürdig gesehen wurden. Einige davon werden auch ohne diese Anerkennung in Erinnerung bleiben. Bertrand Bonellos La Bête etwa oder der dänische Pionierwestern Bastarden mit Mads Mikkelsen. Spannende Entdeckungen gibt es in den Nebensektionen zu machen, wo etliche Filme mit Genre- und Genderkonventionen experimentieren. Julia Fuhr Mann widmet sich in ihrem hybriden Dokumentarfilm Life Is Not A Competition, but I’m Winning Sportler*innen, die das binäre Geschlechtersystem widerlegen, lustvoll, kämpferisch und mit Witz. In Tatami zeigt die aus dem Iran stammende und im französischen Exil lebende Schauspielerin und Debütregisseurin Zar Amir (Holy Spider) mit ihrem israelischen Co-Regisseur Guy Nattiv in klaustrophobischen Schwarzweißbildern, wie sich eine iranische Judoka und ihre Trainerin bei der Weltmeisterschaft in Tiflis gegen den Druck des eigenen Regimes wehren, das verbieten will, dass sie gegen eine Israelin antritt.>Und die Niederländerin Stefanie Wolk porträtiert im Drama Melk naturalistisch nüchtern eine junge Frau, die nach dem Verlust ihres ungeborenen Kindes lange keine Trauer zulässt und versucht, ihre Muttermilch, die sie regelmäßig abpumpt, im Internet zu verkaufen. Als Publikumsliebling entpuppte sich Quentin Dupieuxs herrlich durchgeknalltes Anti-Biopic Daaaaali über den Versuch einer jungen Journalistin, ein Interview mit Salvador Dalí zu führen. Wie Dupieux den Superstar des Surrealismus und begnadeten Selbstdarsteller in verschiedensten Ausformungen (und von verschiedenen Schauspielern verkörpert) zeigt und dabei mit Zeit und Raum spielt, ist schillernde Hommage und führt zugleich die Idee ad absurdum, Leben und Werk in einem 77-Minuten-Film auch nur annähernd gerecht zu werden. Ein kleiner Film und großes Kino.