Sarah Polleys Film „Die Aussprache“: Flüchten oder Standhalten
Kino Wie umgehen mit erlittenem Missbrauch? Die Regisseurin Sarah Polley lässt die Frauen einer mennonitischen Glaubensgemeinschaft darüber diskutieren und ihre eigene Zukunft entscheiden
Einer der Täter aus der Mennonitengemeinde ist verhaftet worden. Nun beraten sich die Frauen in der Dorfscheune
Foto: Orion Releasing LLC.
Sanft verkündet eine Frauenstimme: „Die Geschichte endet, bevor du geboren wurdest.“ Dann gibt die eben noch schwarze Leinwand den Blick von oben auf eine schlafende junge Frau frei, das Laken zur Seite geschoben. Sie erwacht, blickt Richtung Unterleib und ruft: „Mutter.“ Auf ihren nackten Oberschenkeln sind Male zu sehen, Spuren von Gewalt. Die Mutter kommt ans Bett, umarmt sie tröstend, offenbar nicht zum ersten Mal. „Uns wurde gesagt, es sei das Werk von Geistern, oder Satan“, ertönt die Stimme erneut. Sie würden lügen, um sich wichtig zu machen, oder es sich schlicht einbilden. Zu sehen sind die Übergriffe nicht, die jahrelang geschehen seien, gegenüber „uns allen“. Stattdessen nun Bilder einer scheinbar
baren Idylle, Mädchen, die spielend durch ein Kornfeld laufen, mit geflochtenen Zöpfen und altmodischen Kleidern, wie aus der Zeit gefallen.Die Szenerie in Patinatönen suggeriert etwas längst Vergangenes, auch der Ort in ländlichem Gebiet bleibt vage im Drama Die Aussprache, dem neuen Film der kanadischen Schauspielerin und Regisseurin Sarah Polley. Die Frauen und Mädchen sind Teil einer Mennonitengemeinde, in der die strenggläubigen Nachfahren europäischer Einwanderer isoliert und nach ultraorthodoxen Regeln leben, größtenteils noch immer wie ihre Ahnen, die im 19. Jahrhundert in die Neue Welt gekommen sind.Eingebetteter MedieninhaltSeit Jahren werden die Frauen der Kolonie nachts betäubt, mit einem Beruhigungsmittel für Kühe, und von Männern der Gemeinde vergewaltigt, von Gatten und Vätern, Brüdern und Söhnen. Wenn sie mit Schmerzen, blauen Flecken und blutend aufwachen, finden die Männer allerlei religiös verbrämte Ausreden und Erklärungen, die von den Opfern lange hingenommen wurden. Bis eines Tages einer von ihnen erwischt wird und den Frauen schlagartig klar wird, dass es ihre Nächsten sind, die sie außer Gefecht gesetzt und sich an ihnen vergangen haben.Dialektik statt BerichtDer Täter wird verhaftet. Und während die anderen Männer der Kolonie versuchen, ihn auf Kaution wieder freizubekommen, treffen sich einige der Frauen in der Dorfscheune, um zu beraten, wie sie auf die erfahrene Gewalt reagieren sollen. Bevor die Männer zurückkehren, bleiben ihnen nur Stunden dafür, zu entscheiden: Bleiben oder gehen? Schlicht weiter in der Gemeinde leben wie bisher, Seite an Seite mit ihren Peinigern, und ihnen vergeben? Oder aufbegehren und die Täter konfrontieren, in der Hoffnung auf ein gewaltfreies Miteinander? Oder die Gemeinde verlassen und in einer ihnen gänzlich unbekannten Welt einen Neuanfang wagen?Die Frauen diskutieren, wägen ab, legen Pro- und Contra-Listen an. Reden dürfen sie, aber Schreiben und Lesen haben sie nie gelernt, weil Bildung nur den Männern gestattet ist. Also finden sie einen jungen Mann, August (Ben Whishaw), einen sanften Außenseiter und Sympathisanten, der für sie die Debatte und die sehr unterschiedlichen Positionen schriftlich festhält.Die Aussprache ist Polleys erste Regiearbeit seit zehn Jahren. 2006 hatte sie mit dem Demenzdrama An ihrer Seite ein glänzendes Debüt hingelegt, auf das 2011 Take This Waltz folgte und dann 2012 der sehr persönliche Dokumentarfilm Stories We Tell. Ihr neuer Film ist die Adaption des gleichnamigen Romans der kanadischen Autorin Miriam Toews, 2018 im Original und im Jahr darauf in deutscher Übersetzung erschienen, der wiederum von realen Ereignissen in einer Mennonitenkolonie in Bolivien inspiriert ist. Polley nimmt einige entscheidende Veränderungen vor, sie verlegt die Handlung an einen nicht näher bestimmten Ort in Kanada. Während der Roman aus der Sicht des männlichen Protokollanten erzählt wird, lässt Polley vor allem die Frauen in ihrer Vielstimmigkeit zu Wort kommen. Dialektik statt Bericht. Dadurch wird der Film universeller und zeitloser, in seinem allgemeingültigen Anspruch wirkmächtiger.Die höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten sind mit Rooney Mara, Claire Foy und Jessie Buckley hochkarätig besetzt, das Austarieren ihrer teils widersprüchlichen Positionen klug geschrieben. Das Drama trifft einen Nerv mit seiner Auseinandersetzung um Machtmissbrauch und Gewalt, um erzwungene oder genuin empfundene Vergebung und darum, wie sich Frauen solidarisieren. Dabei bleibt das archaisch-abgelegene Setting abstrakt und weltfremd, zumal aus europäischer Sicht, zu tief ist es im Puritanismus und Pioniergeist Nordamerikas verwurzelt. Der Tonfall ist vom Glauben geprägt, der auch angesichts der Gewalttaten der Männer unerschütterlich scheint. Im Kern geht es auch darum, Worte zu finden für das scheinbar Unsagbare, wobei die Dialoge in ihrer Geschliffenheit gewöhnungsbedürftig sind, auch Polleys Inszenierung als kammerspielartiges Ensemblestück wirkt streckenweise steif und geradezu konventionell in seiner Haltung.Diese Ambivalenz ist Kontrast und Krux zugleich. Das Artifizielle und Theatrale irritiert und schafft eine Distanz, die das Geschehen als etwas erscheinen lässt, das wenig mit uns zu tun hat, aber auch den Blick auf Strukturen und Mechanismen freilegt, die bei aller Sensibilisierung seit #MeToo heute noch auf vielen Ebenen wirken. Das Ende dieser Auseinandersetzung ist wenig überraschend und in seiner biblischen Ikonografie konsequent. Der Exodus aus dem vergifteten Paradies, in eine ungewisse Zukunft. In unsere Gegenwart.
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