James (Jason Segel) hat eine harte Nacht hinter sich, mal wieder. Mit reichlich Alkohol, Tabletten und zwei jungen, von ihm bezahlten Frauen hat er am Gartenpool hinterm Haus durchgefeiert, sehr zum Unmut seiner Nachbarin Liz (Christa Miller), die um drei Uhr morgens von der lauten Musik wach geworden war, wohl nicht zum ersten Mal. Diese Exzesse kennt auch seine jugendliche Tochter Alice (Lukita Maxwell) zur Genüge, die dem stark verkaterten James am Morgen danach sichtlich genervt eine Schmerztablette reicht.
Noch deutlich angeschlagen radelt James kurz darauf zur Praxis für Verhaltenspsychologie und entschuldigt sich, als er den Gesprächsraum betritt, für sein Zuspätkommen. Er setzt sich und fragt sein Gegenüber, noch etwas atemlos, wie es ihm heute gehe. Ja
e gehe. James ist nicht in Behandlung, er ist der Therapeut.Vor einem Jahr hat er seine Frau verloren. Seitdem lässt er sich gehen, ist ein emotionales Wrack. Dabei betreibt er eine Gemeinschaftspraxis mit dem erfahrenen Psychologen Paul Rhoades (Harrison Ford), den James sehr viel mehr als väterlichen Mentor sieht, als dieser bereit ist zu sein, und der jungen Kollegin Gabrielle Evans (Jessica Williams). Durch die Sitzungen schleppt er sich mit Mühe, hört kaum zu bei den vermeintlich ewig gleichen Jammereien. Bis er an diesem Morgen aus dem Affekt beschließt, mit seinen Klient*innen ab sofort Klartext zu reden und immer und überall zu sagen, was er denkt. Auch wenn’s wehtut. Oder gegen den Berufskodex verstößt. Wie Grace (Heidi Gardner), der er rät, endlich ihren toxischen Typen zu verlassen. Oder sein neuer Klient Sean (Luke Teenie), ein junger Kriegsveteran, der immer wieder ausrastet und in Schlägereien gerät. Als Sean bei seinen Eltern rausfliegt, lässt ihn James vorübergehend bei sich einziehen und bricht damit einen der Grundsätze als Therapeut: keine privaten Kontakte.Das führt immer wieder zu sehr komischen Situationen, erfüllt die Erwartungen ans Genre, schrammt aber auch an manchem Klischee entlang. Doch Shrinking will mehr und scheut auch vor schmerzhaften Themen nicht zurück. Kein Wunder, stehen hinter dem Projekt mit Bill Lawrence und Brett Goldstein doch zwei prägende Personen der empathischen Fußball-Comedyserie Ted Lasso, die sogar unter eingefleischten Sportverweigerern begeisterte Anhänger gefunden hat. Vor allem Lawrence’ Handschrift ist deutlich spürbar, seine Gabe, einfühlsam von Wahlfamilien zu erzählen, mit Mannskindern als Protagonisten und Platz für Schräges, Albernheiten und Lebensweisheit. Leichthändig, ohne banal zu werden, handelt Shrinking vom Leben und Sterben, von Liebe und Trauer, vom Altern und Neubeginnen.Hauptdarsteller Jason Segel, bekannt vor allem als Marshall aus der langjährigen Sitcom How I Met Your Mother, einem der größten TV-Erfolge der Nullerjahre, war lange auf den liebenswerten Schlaks abonniert, auch wenn er mit eigenen Drehbüchern etwa zu Männertrip und Projekten wie der ambitionierten Mysteryserie Dispatches from Elsewhere über eine ominöse Schnitzeljagd sein Spektrum erweiterte.Talent fürs AbsurdeMit James, der sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen versucht, als Vater, Freund und Therapeut gleichermaßen, hat Segel endlich eine Rolle gefunden, die ihm erlaubt, mehr als nur sein Talent für komisches Timing und absurde Situationen zu zeigen. Sehenswert ist auch Harrison Ford, der hier als mit dem Alter und ungelösten Familienangelegenheiten hadernder Mann sehr souverän sein Actionhelden-Image unterwandert.Eingebetteter MedieninhaltSo unkonventionell (und letztlich auch wenig realistisch) Shrinking die Methoden und Prozesse der Psychotherapie zeigt, ist die Serie symptomatisch für einen an sich erfreulichen Trend, mentale Gesundheit und das Annehmen professioneller Hilfe zu enttabuisieren. Fachbegriffe sind längst in die Alltagssprache eingegangen, ein Phänomen, das auch in der Serie reflektiert und ironisiert wird. Der Psychiater ist in Filmen und Serien nicht mehr bloße Nebenfigur, die den Helden auf seiner Reise zur Selbsterkenntnis begleitet, spätestens seit der israelischen Serie BeTipul – In Behandlung und ihren internationalen Ablegern ist er auch als Protagonist sendefähig, mit eigenen Problemen, die nicht bloß Ticks sind, die als Gag taugen. Noch mehr als etwa zuletzt bei der großartigen französischen Version In Therapie auf Arte vermischen sich bei Shrinking James’ Konflikte mit denen seiner Klienten. Der Fokus verlagert sich weg von der eigentlichen Arbeit und deutlich mehr auf ihn und sein Umfeld. Damit verbunden ist auch der Tonfall leichter und weniger dramatisch als bei der Arte-Serie, die von Bataclan-Traumata und den psychischen Folgen der Pandemie handelt.Mit einer Doppelfolge startet Shrinking am 27. Januar auf AppleTV+, jeweils freitags gibt es eine neue Folge. Die Serie nimmt sich trotz des kurzen halbstündigen Formats Zeit, auch den Nebenfiguren Raum für ihre Belange zu geben. James’ Auseinandersetzung mit Trauer und Schuldgefühlen wird ebenso thematisiert wie etwa die Verlustängste seines besten Freundes Brian (Michael Urie), Liz’ teils übergriffige Hilfsbereitbereitschaft oder Pauls Kampf mit seiner Parkinson-Erkrankung und dem entfremdeten Verhältnis zu seiner Tochter. Biologische und gewählte Familien, Privates und Berufliches existieren gleichberechtigt miteinander, wandeln und verweben sich. Nicht immer zum Positiven, oft knarzt und ruckelt es und müssen Positionen und Grenzen neu ausgehandelt werden. Shrinking erzählt davon wohlwollend und warmherzig, ohne sentimental zu werden. Und mit der nötigen Prise ironischer Distanz, die auf vergnügliche Weise verschleiert, wie therapeutisch selbst das Zuschauen wirkt. Gerade weil die Methoden so schön unorthodox sind.