Colson Whiteheads „Die Regeln des Spiels“: Poker, Cops und Soul
New York In Colson Whiteheads Roman „Die Regeln des Spiels“ wird das Harlem der 1970er zum eigentlichen Protagonisten. Ein grandioser Roman, der voller genialer Twists und Verschränkungen ist, und ein längst vergangenes New York zum Leben erweckt
Foto: Pictoral Parade/Keystone New York/Hulton Archive/Getty Images
Der New Yorker Bezirk Harlem war in den 70er Jahren ein ziemlich hartes Pflaster. Drogen, Prostitution, organisiertes Verbrechen, Raubüberfälle und Schießereien gehörten zum Alltag. Wie den die mehrheitlich schwarzen Bewohner dieser sozial abgehängten Gegend erlebten, erzählt Colson Whitehead in seinem neuen Roman Die Regeln des Spiels. Im Zentrum des knapp vierhundert Seiten starken Buches – prall gefüllt mit zahlreichen, genial miteinander verschränkten Geschichten und Anekdoten aus dem nördlichen Uptown von Manhattan – steht, wie schon in Harlem Shuffle, der Möbelhändler Ray Carney.
Der betreibt 1971 immer noch sein gut laufendes Geschäft auf der legendären 125sten Straße, ist aber älter und bürge
er älter und bürgerlicher geworden. Mit Hehlerei hat er nichts mehr am Hut. Als seine Kinder im Teenageralter eines Tages unbedingt zum Konzert der Jackson Five in den Madison Square Garden wollen und Carney einfach keine Karten bekommt, lässt er alte Kontakte in Richtung Unterwelt spielen und hat prompt ein Angebot: Der korrupte Detektiv Munson, der früher Schutzgeld von ihm kassierte, als im Möbelladen noch Hehlerware vertickt wurde, verspricht ihm Tickets, wenn Carney ihm als Fahrer für eine Tour zur Verfügung steht. Der sagt zu, ohne zu ahnen, worauf er sich da einlässt.Die Regeln des Spiels ist mitunter ein ziemlich brutales Buch mit jeder Menge expliziter Gewaltdarstellungen. Da wird geprügelt, erniedrigt, zugestochen, entführt, vergewaltigt, es werden Brände gelegt und Menschen erschossen. Carney ist mit Munson auf nächtlicher Tour durch Harlem unterwegs, da der Cop sich wegen eines drohenden internen Verfahrens wegen Korruption aus New York absetzen und vorher noch richtig abkassieren will. Da er einschlägige Lokalitäten mit illegalem Glücksspiel, Prostitution und Hehlerei gut kennt, schießt und prügelt er sich rücksichtslos durch den Bezirk. Carney will natürlich abhauen, wird aber mit Waffengewalt von dem rassistischen Polizisten bedroht, der in dieser Nacht auch zahlreiche Morde begeht.Während die beiden halb Harlem abklappern, fächert Colson Whitehead ein Panorama unterschiedlicher Gangster-Biografien und -Geschichten auf. Da gibt es klangvolle Namen wie Chink Montague und Notch Walker, die im ganzen Stadtteil berüchtigt und gefürchtet sind. Nicht minder brutal sind die weißen Polizisten, die in dieser kriminellen Sphäre allesamt fleißig mitmischen. Die nächtliche Tour wird zum verbindenden Element dieser rasant erzählten Anekdoten über illegale Pokerrunden, bewaffnete Geldeintreiber, korrupte Cops und legendäre nächtliche Sandwich-Buffets in der Unterwelt Harlems.Dabei ist die Polizei in jener Nacht eh schon im absoluten Alarmzustand, denn gerade hat die neu gegründete Black Liberation Army, eine militante Abspaltung der Black Panther Party, in New York zwei Polizisten erschossen und einen schweren Raubüberfall verübt, dessen Beute ausgerechnet Munson in die Hände fällt.Im Original hat das Buch den Titel Crook Manifesto, was sich mit „Gangster-Manifest“ übersetzen lässt. Die Kriminalität in Harlem, die Colson Whitehead hier wie ein Stadtschreiber sehr lebendig und mitunter verstörend schildert, ist sozialer und ökonomischer Interaktionsmodus im Viertel. Schließlich ist auch der bürgerliche Möbelhändler ein ehemaliger Hehler und sein Vater war Mitglied der örtlichen Mafia.Die Regeln des Spiels erzählt auch viel vom Alltagsleben in Harlem, vom Essen, von Kinderreimen, romantischen Liebesgeschichten, von Polizeikontrollen, von der schwarzen Pop-, Soul- und Jazzmusik – und vom Blaxploitation-Hype der 70er Jahre und der kulturellen Verwertung der heute als so hip geltenden Ghetto-Credibility.Im zweiten Teil dieses in alle Richtungen ausfransenden Romans geht es um den Dreh eines Blaxploitation-Films im Jahr 1973. Carneys enger Kumpel Pepper sucht nach der während der Dreharbeiten plötzlich verschwundenen Hauptdarstellerin des Filmprojekts „Codename Nofretete“, einer Mischung aus James Bond, Martial Arts und Blaxploitation. Tagelang recherchiert er in Harlem, wo die Schauspielerin lange Jahre die Geliebte eines ortsansässigen Mafiabosses war. Auch Peppers Suche nach der Schauspielerin als Hardboiled Detective der etwas anderen Art gestaltet sich äußerst blutig, denn er muss in einem Milieu recherchieren, wo er selbst seit Jahren sein Geld verdient, und wird mit seinen Fragen dort wenig herzlich empfangen.Den krönenden Abschluss bildet ein dritter Romanabschnitt über eine Brandserie in Harlem 1976, genauer: eine Reihe von sogenannten heißen Sanierungen, also Brandstiftungen und Betrug, um Versicherungssummen und Gelder aus dem Stadtentwicklungsfonds zu kassieren. Dabei legen sich Carney und Pepper mit der politischen High-Society Harlems an. Denn der Spitzenkandidat, mit dem Pepper auch zusammen in Harlems Verband schwarzer Unternehmer sitzt und für dessen Kampagne seine Frau sich als Freiwillige engagiert, hat jede Menge Dreck am Stecken.Die eigentliche Hauptfigur in Die Regeln des Spiels ist der Bezirk Harlem, wobei Whitehead keine Legendenbildung in Sachen Mafia oder Organisierter Kriminalität betreibt. Die Kriminalität in diesem so voller kleiner sozialer und kultureller Alltags-Details steckenden Roman, der wie ein riesiges, komplexes Gemälde von Harlem erzählt, funktioniert nach den titelgebenden Regeln, gegen die zu verstoßen lebensgefährlich ist. Das müssen einige im Lauf dieses Romans erfahren, in dem Carney und sein Kumpel Pepper ein bisschen wie Robin Hood für das moralisch Gute kämpfen, aber selbst keineswegs unbescholtene Engel sind. Man darf gespannt sein, ob Colson Whitehead die Geschichte von Ray Carney weitererzählt und wir vielleicht noch erfahren, was aus dem Möbelladen in der 125sten Straße in den 80er und 90er Jahren wird.Placeholder infobox-1
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