Was würde passieren, wenn Frauen durch einen evolutionären Sprung plötzlich über Kräfte verfügten, mit denen sie dem vermeintlich stärkeren Geschlecht von einem Tag auf den anderen haushoch überlegen wären? Ein solches Szenario spielt die 1974 geborene englische Schriftstellerin und langjährige Guardian-Kolumnistin Naomi Alderman in ihrem Roman Die Gabe (2016) durch. Amazon hat daraus nun eine Serie gemacht. Alderman, die nicht nur Science-Fiction, sondern auch viel über jüdisches Leben in London schreibt und im Nebenberuf Spiele-Entwicklerin ist, hat an der Adaption mitgearbeitet. Margaret Atwood, von der bekanntermaßen die Romanvorlage zu The Handmaid’s Tale stammt, gilt gemeinhin als ihre Mentorin, manche Kritiker se
e Mentorin, manche Kritiker sehen Die Gabe sogar als literarische Antwort auf The Handmaid’s Tale.Erzählt wird von jungen Frauen, die über den Globus verteilt plötzlich neue Kräfte in sich entdecken. Ihre Hände sind elektrisch aufgeladen und sie können sogar Blitze daraus abschießen, die andere Menschen schwer verletzen. Was passiert hier? Ist das Zauberei? Sehr schnell wird eine wissenschaftliche Erklärung nachgereicht: Vielen jungen Frauen im Alter zwischen zwölf und 19 wächst am Schlüsselbein plötzlich ein neues Organ, mit dem sie ganz ähnlich wie Aale Stromstöße abgeben können.Die Gabe fächert das weltweit auftretende Phänomen an verschiedenen Orten auf und erzählt davon, was es für die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern bedeutet. Dabei verblüfft die Serie mit brisant aktuell wirkenden Bildern. Im fiktiven Saudi-Arabien kommt es bald zu massiven Demonstrationen und einem Aufstand der Frauen gegen die patriarchale Herrschaft – Bilder, die stark an die derzeitigen Demonstrationen im Iran erinnern.Weitere Orte der global inszenierten Serie sind das nigerianische Lagos, London, Seattle, Alabama und der Balkan. Bald ist das Internet voller Berichte über Frauen, die sich gegen übergriffige Männer zur Wehr setzen und Blitze schleudernd Sexisten in die Schranken weisen. Nur, wer bekommt eigentlich die titelgebende Gabe? Dem Zuschauer wird bald klar, dass es vor allem, aber nicht nur jene Frauen sind, die am stärksten unter dem Druck gewalttätiger männlich geprägter Strukturen leiden.Eine neue FrauenbewegungDa ist die Waise Ally (Halle Bush), die sich gegen den sexuellen Missbrauch durch ihren Adoptivvater wehrt, sich bald auf der Flucht durch die USA befindet und in einem von exkommunizierten Nonnen geführten Heim landet, in dem zahlreiche junge Frauen ebenfalls über diese neuen Kräfte verfügen. Roxy (Ria Zmitrowicz), die uneheliche Tochter eines jüdischen Gangsters in London, wurde bisher von ihrem Vater ignoriert, jetzt hat er plötzlich Angst und Respekt vor ihr. Und die in Seattle lebende Jos (Auli‘i Cravalho) kommt weder mit der Schule noch mit ihren Eltern klar. Als sie aus Versehen die Mikrowelle in Brand setzt, gerät sie in Panik. Ihre Mutter Margot (Toni Collette) ist die Bürgermeisterin von Seattle und wird bald zur politischen Fürsprecherin der jungen Frauen mit den besonderen Fähigkeiten.Denn die geraten erwartungsgemäß bald noch mehr unter Druck, weil zahlreiche Männer Angst vor den mächtigen jungen Frauen entwickeln. In Saudi-Arabien wird der Einsatz der neuen Fähigkeiten ebenso wie in einigen autoritären Ländern Asiens und Osteuropas verboten.Das mehrheitlich von Männern regierte liberale Amerika stellt bald fest, dass die jungen Frauen ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, weshalb massenhaft Zwangstests durchgeführt werden. Nicht wenige, die über die neuen Kräfte verfügen, verlieren daraufhin ihren Job. Aber auch rechte Blogger und frustrierte Sexisten machen Front gegen die jungen Frauen, da sich bald herausstellt, dass deren neue Kräfte übertragbar sind. Binnen kurzer Zeit gibt es Hunderttausende Frauen mit diesen Fähigkeiten.Geschichte eines EmpowermentsDie Gabe erzählt vor allem von einem befreienden Aufbruch. Auf dem Balkan flieht eine ganze Gruppe zwangsprostituierter Frauen aus ihrem Gefängnis, bewaffnet sich und gründet eine autonome Gemeinschaft, die bald Überfälle auf benachbarte Orte organisiert. So befreiend und empowernd die neue Macht auch ist, sie verführt zu Missbrauch. Alderman erzählt das in der zweiten Hälfte ihres Buches ausführlich, in der ersten Staffel der Serie wird es bislang nur angedeutet. Die Gabe gibt sich als kämpferische Serie, die an einigen Stellen auch durch den geschickten Einsatz von Popmusik die Ikonografie eines feministischen Empowerments abruft, etwa wenn Gruppen junger Frauen nachts mit einem neuen Selbstbewusstsein durch Städte laufen oder die Polizisten in Riad vor den um ihre Freiheit kämpfenden Frauen beschämt die Köpfe senken. Die ineinander verwobenen Handlungsstränge entwickeln ein temporeiches erzählerisches Panorama mit Technopartys in London und Highschool-Dramen in Seattle, mit journalistischen Recherchen in Lagos, Straßenprotesten und Diskussionen in Hinterzimmern der politischen Macht.Dabei sind es die alltäglichen Details, die am pointiertesten von sich verändernden Geschlechterverhältnissen erzählen, wenn etwa Roxy am Türsteher eines Clubs nur vorbeikommt, indem sie mit ihren Funken sprühenden Fingern droht. Der grobschlächtige Mann gibt klein bei, woraufhin sie ihn auffordert, für sie zu lächeln, was er auch tut. „Du siehst nett aus, wenn du lächelst“, sagt sie grinsend und betritt siegessicher den Club. Wie dystopisch sich das alles noch entwickelt, werden wohl erst die kommenden Staffeln zeigen.