Als der Torre de David, eine 45-stöckige Hochhausbauruine im Herzen der venezolanischen Hauptstadt Caracas, im Jahr 2007 besetzt wurde, war das wohl die größte Hausbesetzung aller Zeiten. Mehr als 2500 Menschen zogen in den niemals ganz fertiggestellten Rohbau ein, der in der neoliberalen Aufbruchstimmung der „roaring nineties“ als Finanzzentrum geplant war. Nach dem Tod des Investors Mitte der 1990er übernahm der venezolanische Staat das Gebäude und ließ es verfallen. Im Zuge der Besetzung wurden Hunderte Wohnungen instandgesetzt und es entstand dort auch eine ganze Infrastruktur kleiner Läden, Cafés und Handwerksstätten. Der Torre de David wurde zu einem selbstverwalteten urbanen Mikrokosmos. International bekannt wurde der besetzte Betonturm durch die prämierte Studie eines Architekturbüros aus Caracas, die die Aneignung des Ortes als mögliches Modell für selbstorganisiertes und kollektives Leben in Metropolen der Schwellenländer analysierte. 2014 wurde das Gebäude dennoch geräumt, vier Jahre später beschädigte ein Erdbeben den Torre de David schwer. Nun erlebt die Geschichte dieser außergewöhnlichen Besetzung eine literarische Bearbeitung durch JJ Amaworo Wilson, der auf das Gebäude während einer Reise nach Caracas aufmerksam wurde und seinen Roman so betitelte, wie die Bewohner des Turmes umgangssprachlich in Caracas genannt wurden: „Damnificados“, deutsch: Verdammte.
Der in Deutschland als Sohn einer Nigerianerin und eines Engländers geborene JJ Amaworo Wilson wuchs in Großbritannien auf und lebte unter anderem in Südafrika, Lesotho, Italien, Kolumbien, den USA und Ägypten. Derzeit ist der Kosmopolit, der zwar schon zahlreiche Bücher über Spracherwerb veröffentlicht, aber mit Damnificados seinen ersten Roman (im englischen Original schon 2014) vorgelegt hat, in New Mexico zu Hause. Sein Buch ist ein wilder erzählerischer Ritt durch einen fiktiven Kosmos subalterner Figuren, ihrer Alltagskultur und ihrer Kämpfe um den Erhalt des besetzten Turmes. Mit dem realen Torre de David und den Verhältnissen in Venezuela hat diese Geschichte aber nichts zu tun. JJ Amaworo Wilson erschafft vielmehr vom sozialen Ereignis der Besetzung aus ein ebenso opulentes Panorama seiner Bewohner, die sich gegen wilde Hunde und Wölfe, einige sogar mit zwei Köpfen, gegen Libellenschwärme, Überschwemmungen und immer wieder anrückende Söldnertruppen wehren müssen. Das Leben im Turm ist ein fortwährender Kampf. Damnificados erzählt von der Selbstermächtigung ausgeschlossener Großstadtbewohner, die ohne jegliche ökonomischen Ressourcen sind. In der aktuellen linken Theoriebildung werden diese Menschen als Surplus-Proletariat oder schlicht als Überflüssige bezeichnet, die im kapitalistischen Verwertungsprozess keinen Platz mehr haben.
Die politische Analyse steht bei Amaworo Wilson aber nicht im Vordergrund. Er erzählt vielmehr vom Alltag seiner Figuren, entwirft ganze Biografien, aber auch eine urbane Geografie der Favelas und Armenviertel, die sich im Umfeld des Turmes befinden und aus denen die Bewohner kommen. Dabei erschafft der weitgereiste und offensichtlich in vielen Sprachen kundige Amaworo Wilson ein buntes globalisiertes Soziotop, das sprachliche und kulturelle Versatzstücke unter anderem aus Südamerika, Indien, der arabischen Welt und Afrika beinhaltet. Es gibt religiöse Waschungen im nahe gelegenen Fluss, karnevaleske Umzüge, die ebenso in einer asiatischen Metropole oder auch in London stattfinden könnten, afrikanische Mythen und heruntergekommene Stadtviertel, wie sie in vielen Gegenden des globalen Südens zu finden sind. Im Zentrum dieses multikulturellen Schmelztiegels der Verdammten dieser Erde steht Nacho, eine Art Anführer der Turmbesetzer, der die Kinder der Nachbarschaft in Lesen und Schreiben unterrichtet und nebenbei als Übersetzer arbeitet. Sein Bruder Emil, dessen Geliebte Maria, die einen Friseursalon im Turm betreibt, und eine ganze Reihe anderer Damnificados bilden den Kern der Ausgestoßenen, die immer wieder von den Erben des früheren Turmerbauers herausgefordert werden. Die schicken regelmäßig ihre Truppen, aber die Damnificados haben Glück und können den Turm halten.
Ein Autor galoppiert davon
An einigen Stellen wirkt das wilde Durcheinander kultureller Verweise und Anleihen, aus denen Amaworo Wilson seine ebenso märchen- wie albtraumhafte Welt zusammenbaut, beinahe zu beliebig, als würde die außerordentliche Fabulierkunst des Autors hin und wieder einfach davongaloppieren. Aber gleichzeitig gelingt es ihm, aus diesem Tohuwabohu beeindruckende literarische Bilder zu komponieren, als würde man beim Lesen riesige popkulturelle Wandmalereien abschreiten. Damnificados hat aber auch etwas von einem fantastischen Comic, der immer wieder in anekdotenhaften Exkursen in unterschiedliche Richtungen ausfranst und ein ganzes Netzwerk miteinander verknüpfter Geschichten erzeugt, die im besetzten Turm zusammenlaufen. Er erzählt von Müllkriegen verfeindeter Stadtviertel, von in die Einsamkeit der Wüste ausgewanderten Eremiten oder von im Chaos der Großstädte verschwundenen Menschen. Dabei geht es weniger um die Psychologie der Figuren als vielmehr um ihre sozialen Verbindungen. Damnificados erzählt eine kollektive Geschichte und wird zu einem schillernden Textkorpus urbaner Legenden.
Info
Damnificados JJ Amaworo Wilson Conny Lösch (Übers.), Nautilus 2020, 320 S., 24 €
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