Flottes Monster

Krimi „Frankenstein in Bagdad“ torkelt durch die jüngere irakische Geschichte
Ausgabe 45/2019
Tatort eines Autobombenanschlags im Irak, während des Krieges im Jahr 2006
Tatort eines Autobombenanschlags im Irak, während des Krieges im Jahr 2006

Foto: Ali Al-Saadi/AFP/Getty Images

Frankenstein in Bagdad? Kann es das geben? Einen fantastischen und außerdem satirischen Genreroman, der im Irak, genauer gesagt in Bagdad, kurz nach dem dritten Golfkrieg im Jahr 2006 angesiedelt ist, in einer teilweise durch den Krieg zerstörten Stadt zwischen fast täglichen Autobombenanschlägen von Islamisten, amerikanischen Militärpatrouillen und einem drohenden Bürgerkrieg? Der eine oder andere Leser dürfte sich da befremdet am Kopf kratzen, aber Ahmed Saadawis im Original 2013 erschienener Roman Frankenstein in Bagdad heimste sogar diverse Preise ein und ist zweifelsfrei ein begnadetes Stück Literatur, unterhaltsam, spannend, gesellschaftskritisch, das aus der Hand zu legen beim Lesen wirklich schwerfällt. Wobei Saadawis Roman neben Krimielementen auch jede Menge Fantasy enthält und keine wissenschaftsfiktionale Literatur ist, wie der Titel vermuten lässt. Denn die Person, die den aus verschiedenen Körperteilen zusammengesetzten Homunculus erschafft, der mordend und Chaos stiftend wochenlang durch Bagdad zieht, ist kein Wissenschaftler wie in Mary Shelleys titelgebendem Roman, sondern ein Geschichten erzählender, versoffener Trödelhändler, der liegengebliebene Leichenteile zusammennäht, um damit gegen den seiner Meinung nach respektlosen Umgang mit Toten zu protestieren, von denen es im Nachkriegs-Bagdad 2006 ziemlich viele gibt. Aber bevor er diesen aus verschiedenen Leichenteilen zusammengesetzten Körper wie geplant als Protestaktion zur örtlichen Polizeiwache karren kann, fährt in diesen Homunculus dann plötzlich die Seele eines Toten, und er wird lebendig.

Tragisch, satirisch

Ahmed Saadawi siedelt sein flott erzähltes Opus, das ziemlich satirisch daherkommt und gleichzeitig die brutale Tragik einer Gesellschaft im Umbruch nach einem Krieg einfängt, in Batawin an. Dieses in der Nähe des Tigris gelegene Bagdader Viertel ist bekannt für seine mittlerweile heruntergekommenen Art-Deco-Häuser, die auch in einigen Reiseführern zu finden sind und in denen Saadawis Figuren leben. Hier wohnt auch der Trödelhändler Hadi in einem halb verfallenen Haus und kommt mit dem Verkauf von Möbeln und allerhand Schrott mehr schlecht als recht über die Runden. Der von ihm im Suff zusammengeflickte Körper aus unterschiedlichen Leichenteilen erwacht plötzlich zum Leben, als die Seele eines jungen, gerade in der Nähe bei einem Autobombenanschlag ermordeten, ziemlich sympathischen Hotelportiers in den Körper fährt. Der weiß erst gar nicht, was los ist, aber bald macht sich die immer schauriger werdende Gestalt auf den Weg, um Rache an all jenen zu üben, die am Tod aller in ihm vereinigten Körper(teile) schuld waren. Und das sind viele.

Die Lage ist komplex. Kurz vor dem Bürgerkrieg im Irak 2006 reicht das von ehemaligen Baathisten des gerade untergegangenen Saddam-Regimes über Bombenattentate verübende Islamisten bis hin zu verschiedenen Milizen, dem organisierten Verbrechen und Anhängern der neuen, von den Amerikanern gestützten Regierung. Dabei werden Rechnungen beglichen, die bis in die Zeit des iranisch-irakischen Kriegs zurückreichen. So wird ein ganzes zeitgeschichtliches Panorama der jüngeren irakischen Geschichte aufgefächert.

Frankenstein in Bagdad verknüpft sehr gekonnt Geschichten aus einer Metropole, die am Rand des Abgrunds steht und in dem das umherschweifende Monster, das von allen nur der „Soundso“ genannt wird, zur finsteren Materialisierung einer allgegenwärtigen Gewalt wird. Rund um das angsteinflößende, aber auch mitunter sehr freundliche, mitfühlende und stets hilflos um Gerechtigkeit bemühte Monster siedelt Saadawi ein umfangreiches Personal an, das in Bagdad ums tägliche Überleben kämpft. Zumeist geht es darum, sich mit den autoritären, schwer einschätzbaren und völlig überforderten Obrigkeiten gut zu stellen, die schwer bewaffnet durch die Straßen ziehen und rücksichtslos gegen alle Bürger vorgehen. Aber Saadawi geht es innerhalb der politischen und historischen Situation ums Alltägliche, dem er mit viel Ironie nachspürt. Da kämpft ein Journalist um die Gunst seines Chefredakteurs, der wiederum im großen Stil Gelder veruntreut. Der Leiter einer ominösen staatlichen Stelle, des „Amts für Beobachtung und Beurteilung“, das unter anderem Wahrsager beschäftigt, um Anschläge vorherzusehen, kämpft scheinbar vergeblich gegen den „Soundso“; und eine ganze Reihe Nachbarn aus Batawin, unter anderem ein Cafébesitzer, ein Makler, eine Mutter, die um ihren im iranisch-irakischen Krieg verloren gegangenen Sohn trauert, und ein derangierter Hotelbesitzer, der kurz vor der Pleite steht, streiten sich, um sich dann wieder zu versöhnen, und helfen sich solidarisch gegenseitig, wenn nicht gerade wieder der von der Presse auch als „Frankenstein Bagdads“ bezeichnete Untote sein Unwesen treibt oder wieder mal eine Autobombe hochgeht.

Dem 1973 geborenen und in Bagdad lebenden Ahmed Saawadi, der neben seiner Tätigkeit als Autor auch als Dokumentarfilmer arbeitet, gelingt der unglaubliche Spagat, diese mitunter tragische und brutale Geschichte über eine vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Metropole, prügelnde, korrupte Polizisten und sich in die Luft sprengende Selbstmordattentäter als satirischen Roman in Szene zu setzen. Der Leser kann in den Kiezkosmos von Batawin eintauchen und mit Saadawis ebenso lebendigen wie widersprüchlichen Figuren mitfiebern und mitleiden. Egal ob es um politische Ränkespiele, familiäre Streitigkeiten, erotisches Begehren, wilde Immobilienspekulation oder religiösen Eifer geht, der mordende Untote – die irakische Frankenstein-Figur – bleibt, selbst wenn er ab und zu auch in den Hintergrund tritt, das verknüpfende Element in diesem rasanten Roman, der mit einem fulminanten Ende aufwartet.

Info

Frankenstein in Bagdad Ahmed Saadawi Hartmut Fähndrich (Übers.), Assoziation A 2019, 288 S., 22 €

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