Die Jamal-Pipeline, durch die seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kein Gas mehr nach Polen und Deutschland geliefert wird, führt über 4.000 Kilometer von der sibirischen Jamal-Halbinsel bis ins brandenburgische Mallnow. Viel wurde über die Gaslieferungen aus Russland diskutiert, aber über den Herkunftstort des Gases nahe dem Polarkreis und die dortigen ökologischen Zerstörungen im Zuge des Ressourcenabbaus wird hierzulande kaum geredet. Nun beschäftigt sich der französische Schriftsteller Wilfried N’Sondé in seinem neuen Roman Frau des Himmels und der Stürme mit der Umweltzerstörung durch die russische Gasförderung und mit der rassistischen Ausgrenzung der dortigen indigenen Bevölkerung in Sibirien.
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rien.„Frau des Himmels un der Stürme" – Gab es vor Tausenden von Jahren eine unbekannte Wanderbewegung von Afrika bis in den Polarkreis?Wilfried N’Sondé, 1968 in Brazzaville in der Republik Kongo geboren, wohnt heute in Lyon und schreibt auf Französisch. Auch hierzulande ist er kein Unbekannter. 25 Jahre lang lebte er in Berlin, wo er unter anderem studierte, seine schriftstellerische Karriere begann, zusammen mit seinem Bruder Serge als Musiker auftrat und mit migrantischen Jugendlichen als Sozialarbeiter in Charlottenburg arbeitete. Sein ebenfalls ins Deutsche übersetzter Debütroman Das Herz der Leopardenkinder (2007) erzählt von einem im Knast sitzenden Jugendlichen aus den Pariser Banlieues (wo auch N’Sondé aufwuchs), der in einen Dialog mit seinen Ahnen eintritt.Um eine Auseinandersetzung mit den Ahnen geht es auch in Frau des Himmels und der Stürme. Der Schamane Num, der mitten in der Wildnis des nördlichen Sibiriens auf der Halbinsel Jamal in einem Tipi lebt, entdeckt im Permafrostboden, der klimawandelbedingt auftaut, ein offensichtlich jahrtausendealtes Grab einer Toten, die mit reichen Beigaben bedacht wurde. Wurde in der Einsamkeit der Tundra, wo Num seinen spirituellen Kontakt zu den Ahnen pflegt, in der Vorzeit eine Königin vergraben? Das Besondere an dem Grab: Die im Eis konservierte Tote ist nicht weiß, sondern schwarz. Gab es vor Tausenden von Jahren eine unbekannte Wanderbewegung von Afrika bis in den Polarkreis?Num will das Grab schützen, aber nur wenige Wochen später soll genau an dieser Stelle mit einer neuen, für den russischen Staat profitablen Erdgasförderung begonnen werden. Diesen massiven Eingriff in die Natur fürchten Num und viele andere dort lebende indigene Nenzen. Können die Erdgasförderung und die Zerstörung der Umwelt durch den Grabfund verhindert werden? Der Schamane schließt sich mit dem französischen Zoologen Laurent Joubert kurz, der sich mit Klimaveränderungen beschäftigt und unlängst mit einer Expedition auf der Jamal-Halbinsel war. Die Rettung des Grabes vor der Zerstörung durch die Energiewirtschaft soll absolute Priorität haben.Ein Grab wird Projektionsfläche und Sehnsuchtsort des Schamanen und der Wissenschaftlerinnen und dient auch als Allegorie einer weltumspannenden Solidarität angesichts einer drohenden ökologischen KatastropheInspiriert wurde Wilfried N’Sondé zu dieser Geschichte nach eigenen Angaben durch eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn im Jahr 2010 und einen archäologischen Fund 2019 in Dänemark, wo Wissenschaftler die DNA-Spuren einer vor 5.700 Jahre in Nordeuropa heimischen schwarzen Frau fanden. N’Sondé verwebt das zu einem packenden Abenteuerroman, der im Original 2021 erschien, also noch vor Russlands Krieg gegen die Ukraine. Der französische Wissenschaftler Laurent Joubert organisiert darin zusammen mit der deutsch-japanischen Ärztin Cosima Meyer-Yamazaki aus Berlin und dem Archäologen Silvere Mabanza aus Paris im Hauruckverfahren eine Wissenschaftsexpedition zum Polarkreis. In der hellen Mittsommernacht beginnt in der sibirischen Tundra ein Wettlauf gegen die Zeit.Gegenspieler der ambitionierten Wissenschaftler, die auf eine spektakuläre archäologische Entdeckung hoffen und so auch die Nenzen in ihrem Kampf für eine Unversehrtheit ihres Territoriums unterstützen wollen, ist Sergej, der CEO des gasfördernden Unternehmens. Der versucht vor den Forschern das Grab zu erreichen, es zu zerstören und so den bevorstehenden Baubeginn der Förderanlagen zu sichern. Sergej, der gerne Schostakowitsch hört, unterhält auch enge Verbindungen zur Moskauer Mafia, was den Druck auf ihn deutlich erhöht. Die Wissenschaftler wiederum werden von keiner renommierten Universität oder Forschungseinrichtung losgeschickt. Die Reise haben sie innerhalb weniger Tage improvisiert und selbst finanziert.Wilfried N’Sondé entwirft in seinem Roman keine fiktionale archäologische Geschichte rund um die „Schwarze Königin Sibiriens“. Das Grab wird vielmehr Projektionsfläche und Sehnsuchtsort des Schamanen und der Wissenschaftlerinnen und dient auch als Allegorie einer weltumspannenden Solidarität angesichts einer drohenden ökologischen Katastrophe. Der Schamane Num und seine sich in Rentierfellen durch die kalte Landschaft arbeitenden Gefährten stehen für einen spirituellen und erhaltenden Umgang mit der Natur. Dagegen steht die materialistische und zerstörerische Gewalt kapitalistischer Ausbeutung in der Person Sergejs, der im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen geht und seine Angestellten vor Ort in einem fort rassistisch schikaniert. Gleichzeitig fächert N’Sondé ein Panorama an Konflikten der drei Wissenschaftler auf, die in der Tundra plötzlich eskalieren.Cosima hat den Sexismus ihrer Kollegen satt, Silvere versucht sein familiäres Erbe zu bewahren, ohne seine eigenen Ambitionen aufzugeben. Und der alternde Laurent kämpft mehr schlecht als recht gegen das Gefühl an, im Leben gescheitert zu sein. Der Schamane Num verarbeitet sein Trauma aus dem Afghanistan-Krieg mit einer Hinwendung zur traditionellen Lebensweise seiner Vorfahren. Frau des Himmels und der Stürme bietet anhand dieser Figur auch einen Einblick in die kaum bekannte Lebenswelt der Nenzen und ihrer sozialen Ausgrenzung, die mit einer ökologischen Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen einhergeht. Das macht diesen packenden Abenteuerthriller zu einem regelrechten literarischen Aufruf, solidarisch über alle Grenzen hinweg miteinander gegen die Zerstörung unserer Umwelt zu kämpfen.Placeholder infobox-1