Noch bevor die Präsidentschaftswahl in den USA beginnt, hat Donald Trump in William Gibsons neuem Roman Agency schon mal die Wahl 2016 gegen Hillary Clinton verloren, und zum Brexit kommt es darin auch nicht, weil die Briten mit „No“ gegen den EU-Austritt stimmen. Wirklich helfen tut das aber wenig, denn diese Parallelwelt steht kurz vor einem Atomkrieg.
Mit dem fast 500 Seiten dicken Agency setzt der mittlerweile auch schon 72-jährige Cyberpunk- und Science-Fiction-Großmeister William Gibson seine vor vier Jahren mit Peripherie begonnene Trilogie fort. In Agency soll eine junge Tech-Angestellte namens Verity in San Francisco eine neuartige Künstliche Intelligenz testen. Eunice, wie sich diese KI nennt, hat Kontakt zu Menschen aus der Zukunft, die versuchen, das Geschehen im Jahr 2017 zu manipulieren und so den drohenden Atomkrieg zu verhindern. Außerdem ist eine halbseidene kalifornische Tech-Firma hinter ihr her und versucht sie entweder für sich zu gewinnen oder gleich ganz abzuschalten. Denn Eunice streift alle Fesseln ab, breitet sich über die ganze Erde aus und beginnt nach eigenen Vorstellungen zu handeln.
Agency ist ein außergewöhnlicher Roman, der die Geschichte über ein futuristisches London Ende des 22. Jahrhunderts aus Peripherie fortschreibt, in dem gelangweilte Oligarchen und ihre Nachkommen, genannt die „Klept“, mithilfe eines Servers und Avataren zu verschiedenen Punkten der Vergangenheit reisen und auf diese Weise dort neue Zeitlinien beziehungsweise Parallelwelten entstehen lassen. In einer davon fängt besagte Eunice, die wohl sympathischste und charakterstärkste künstliche Intelligenz der bisherigen Literaturgeschichte, an, sich gegen die Bevormundung durch profitorientierte und autoritäre Kräfte zu wehren. Während die KI und ihre Freundin Verity durch das parallelweltliche San Francisco unserer jüngsten Vergangenheit stolpern, auf abgefahrene Partys und in wilde Clubs gehen, mit allen möglichen Tech-Firmen zu tun haben und auf Verfolgungsjagden durch die Stadt und das kalifornische Umland heizen, wird das alles in einem London knapp zweihundert Jahre später detailliert verfolgt. Mithilfe eines Avatars, der aus der Militärforschung stammt und über den gleichzeitig bis zu drei Personen aus der Zukunft mit Verity und Eunice durch das San Francisco von 2017 jagen, soll die KI dabei unterstützt werden, durch fleißiges Networking die atomare Katastrophe zu verhindern.
Cosplay-Viertel, Implantate
William Gibson inszeniert dieses Endzeitdrama als schrillen Pop-Thriller, der von ganzen Cosplay-Vierteln und Straßenzüge bevölkernden Androiden im futuristischen London erzählt, wo unsichtbare Autos durch die Luft fliegen, gigantische Gebäude in den Himmel wachsen und jeder Mensch implantierte Kommunikationsmodule trägt. Es gibt sich bewegende Tattoos, die Haut mancher Menschen schillert in allen Farben und jede Menge anderer Körpermodifikationen kommen zum Einsatz. Aber in dieser zukünftigen hyperkapitalistischen Welt, die von einer Clique feudalistischer Oligarchen mit Erbrecht regiert wird, ist durch den sogenannten Jackpot, eine ganze Reihe von Pandemien, Kriegen und Umweltkatastrophen, die Erdbevölkerung um 80 Prozent dezimiert worden. Parallel zu dieser dystopischen, sich stets weiterentwickelnden Dauerkrise fand ein bahnbrechender Nano-Technologie-Schub statt, sodass mithilfe unzähliger Nanobots ganze Stadtviertel innerhalb eines Tages gebaut werden können, komplexe Umwelttechnologien zum Standard gehören und jegliche Produktion quasi keinerlei technische Beschränkung mehr kennt. Nur was macht man mit so viel technologischer Macht, die aber dann doch der profitorientierten Logik des Kapitalismus unterliegt? Diese Frage nach der titelgebenden „agency“ (dt. Handlungsmacht) stellt sich auch für die Super-KI Eunice. Lässt sich mit ausreichend „agency„ wirklich die Welt retten?
William Gibson beschreibt in diesem zweiten Teil seiner Trilogie, der auch unabhängig vom ersten gelesen werden kann, eine lang anhaltende, multikausale Apokalypse, die auch durch einen gewaltigen Technologiesprung nicht wirklich aufgehalten, wenngleich in ihren Konsequenzen ein wenig abgemildert werden kann. An das in unserer Gesellschaft nach wie vor so tief verwurzelte Technologievertrauen im Sinn einer fortwährenden Entwicklung zum Besseren ist das natürlich eine radikale Absage. Der drohende Weltuntergang, der in Hollywood schon seit Jahren von Roland Emmerich über diverse Marvel-Verfilmungen bis hin zu Christopher Nolans Blockbuster Tenet (der Freitag 35/2020) so hingebungsvoll in Szene gesetzt wird, bedeutet bei Gibson nicht den drohenden finalen Endpunkt für die Menschheit, sondern wird zu einem festen Bestandteil im Ereignishorizont seines World-Building. Wobei er es schafft, diese düstere Dystopie als fast schon operettenhafte, bunte Sdigital.cience-Fiction zu inszenieren.
Die zentrale Frage, die sich die Figuren in diesem rasanten Roman immer wieder stellen, nämlich wozu die verschiedenen Zeitlinien und Parallelwelten – unter anderem gibt es auch ein heruntergekommenes White-Trash-Amerika Mitte des 21. Jahrhunderts – eigentlich erschaffen werden, darauf wird nur häppchenweise geantwortet. Auch wenn sich da in Agency schon erste Antworten abzeichnen, dürfte die komplette Auflösung erst der noch ausstehende Band drei der Trilogie bieten. William Gibson weiß es wirklich spannend zu machen.
Info
Agency William Gibson Cornelia Holfelder-von der Tann und Benjamin Mildner (Übers.), Tropen Verlag 2020, 498 S., 25 €
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