Mai, Juni, Juli, Lottmann

Rezession Die Romane des viel gescholtenen Autors Joachim Lottmann kommen gerade richtig
Ausgabe 20/2020
Schriftsteller Joachim Lottmann
Schriftsteller Joachim Lottmann

Foto: Sven Lambert/Imago Images

Natürlich wird es böse enden. Wie eine Schlittenfahrt gen Abgrund. „Rezession, Baby!“ (Bernd Begemann). Hier kommt die Lawine, die das Après-Ski-Dorf unter sich begräbt. Wo eben noch Party war, ist plötzlich Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Insolvenz, Ruin. Gestern noch geachtete Bürger, Unternehmer, Freiberufler, Künstler tragen mit einem Mal das Kainsmal „gescheitert“. Sie gehören nicht mehr dazu. Man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, was dies mit dem Selbstwertgefühl der Betroffenen anrichtet.

Ein guter Zeitpunkt, Joachim Lottmann zu lesen. Der hat nie dazugehört. Weil er „soziophob“, „introvertiert und fast schon krankhaft autistisch“ ist und schon immer aussah wie ein „verklemmter deutscher Schriftsteller“, wie „(Franz Josef) Strauß in seinen besten Jahren“, wie „der Hauptkommissar der deutschen Auslandspolizei“. Joachim Lottmann (geb. 1956) und seine literarischen Alter Egos geizen nicht mit Selbstspott.

Verklärt wird hier gar nichts. Am Start erkennt man den Außenseiter. In mehreren seiner Romane kommt Lottmann auf seine „traumatische Kindheit in Nordost-Niederbayern“ zu sprechen. Eine Hamburger Familie landet in „Bayrisch-Kongo“, weil der Vater sich dort eine Politkarriere erhofft. Ein hoffnungsloses Unterfangen mit nachhaltigen Konsequenzen. Das Scheitern des Vaters, die zerstrittenen Eltern, das schwierige Verhältnis zum Bruder, all das macht Lottmann noch als Erwachsenem zu schaffen. So ist der weitere Weg vorgezeichnet. In Unter Ärzten schildert er seine Odyssee durch Psychiaterpraxen, in Zombie Nation wandelt er auf den Spuren seiner Buddenbrooks-artig zerfallenden Familie, und in Der Geldkomplex beschreibt er seine Versuche, sich mit leerer Brieftasche und knurrendem Magen über Wasser zu halten.

Das Ergebnis ist keine depressive Innerlichkeitsliteratur, sondern die Wiedergabe des eigenen Lebens als Schelmenroman. Dieser Mann, der seinem Therapeuten erzählt, dass er „nur eine Stunde am Tag die Gesellschaft von Menschen ertrüge“, stürzt sich unentwegt ins Gesellschaftsleben. Ausgerechneter er, der Prototyp des Verdrucksten, sucht die Nähe zu den Schönen, Eloquenten und Erfolgreichen.

Das muss schiefgehen. Immer wieder stößt Joachim Lottmann auf Ablehnung, Verachtung, ja, Hass. Was ihn nicht sonderlich zu stören scheint. Fast möchte man glauben, er hätte Verständnis dafür, dass man ihn, den Unbeholfenen und Gehemmten, nicht mag. Fast. Denn während er sich selber auf die Schippe nimmt, stellt er seine Boheme-Kollegen bloß, streut Gemeinheiten und Spitzen zwischen die Zeilen, weshalb Rainald Goetz in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle zu dem Schluss kam: „Dieser Mensch ist wirklich BÖSE. Finster, zuinnerst, zutiefst und ohne Grund, einfach böse.“ Das stimmt natürlich nicht. Nicht Lottmann ist böse, sondern die Welt, die er beschreibt. Ob Charity-Gala, Echo-Verleihung oder Sommerfeste von Bild, Stern und ZDF – seine Gesellschaftsreportagen (nachzulesen in Auf der Borderline nachts um halb eins) zählen zum Wahrhaftigsten, was der subjektiv durchtränkte New Journalism je hervorgebracht hat.

Ein Zyniker ist er nicht. Sobald Lottmann jemanden gut findet, fällt er ins andere Extrem. Da wird gehuldigt und gelobpreist wie bei der Marienverehrung. Seine Elogen auf Christian Kracht und Gerhard Schröder haben ihm den Vorwurf des „Zu-Tode-Lobens“ eingebracht. Als wäre sein Überschwang, sein Feuereifer ironisch gemeint. Vielleicht liegt genau darin der Wahrnehmungsfehler. Lottmann bewegt sich in einem Umfeld, in dem unmittelbare Emotionen nicht vorgesehen sind. Ein Mikrokosmos der ironischen Distanz, in dem rigide soziale Codes herrschen.

Genauso fremd wie heute

Schon der große Feuilletonist Fritz J. Raddatz beschrieb in seinen Tagebüchern, wie erbarmungslos die Medien- und Kulturwelt zuschlägt, sobald sich jemand die Blöße gibt. Doch war Raddatz Teil des Systems; ein Karrieremensch, der vom Chefsessel aus jammerte. Joachim Lottmann hingegen blieb selbst unter Außenseitern der Außenseiter. Schon als Mitarbeiter von Spex, einem Magazin, das sich als Gegenöffentlichkeit verstand („Es gab nur zwei Lager: Wir selbst und die Doofen“, Clara Drechsler), wurde er eher geduldet als gemocht. In seinem Debütroman aus dem Jahr 1987 Mai, Juni, Juli beschrieb er denn auch die kleinen Demütigungen, die er als Nicht-Hipster unter lauter Hipstern erlebte.

Dass solche Allltagsaufzeichnungen Literatur waren, begriff man damals nicht. Erst 15 Jahre später erkannte der Literaturkritiker Volker Weidermann, dass dieses Werk „der Anfang vom neuen, schönen, großen Lebensschreiben“ war. Und weil dieses Leben den soziophoben Joachim Lottmann seit jeher überforderte – „ich war genauso fremd wie heute“ –, brachte er es in bisher einem Dutzend Bänden zu Papier. Ohne künstliche Plots, ohne Fantasiegebilde (sieht man von dem Felix-Krull-Wiedergänger in Endlich Kokain einmal ab). In einem Interview mit dem Direktor des Vienna Art Institute, Gerald Matt, betonte Lottmann: „Ich schreibe nur, was ich erlebt habe.“ Das ist unspektakulär, aber „der Leser erlebt ja auch keine Story, der macht ja auch keinen Bankraub“.

Dieses normale, ungeschönte Leben verhält sich zu den Imagelegenden des Social-Media-Zeitalters wie die Brüder Grimm zu Disneyworld. Die nahende Rezession wird dies ändern. Mit dem beruflichen Scheitern werden viele Selbstdarsteller aus ihrer eigenen Inszenierung rausgeschmissen – der Spott ersetzt den Spot. Und so mancher Erfolgsverwöhnte wird sich unerwartet als Außenseiter wiederfinden. Höchste Zeit, sich darauf einzustimmen – willkommen in der Welt des Joachim Lottmann!

Frank Jöricke schrieb den Roman Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage und das Sachbuch War’s das schon? und ist Werbetexter, freier Mitarbeiter von Playboy und ND

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