Selbst und ständig

Kino Ken Loachs neuer Film erzählt, wie Menschen in der Gig Economy zugrunde gehen
Ausgabe 05/2020

Man weiß angesichts der jüngsten Wahlergebnisse in Großbritannien nicht so recht, ob man Ken Loach, den britischen Altmeister des sozial engagierten Kinos, eigentlich bedauern soll. Da ist er nun seit Jahrzehnten ein wackerer Arbeiter im Weinberg des Fortschritts und bemüht sich Film um Film, der sozialistischen Idee zu einem Platz im Herzen der Menschen zu verhelfen. Schon in seinem Erstlingswerk, dem Fernsehspiel Cathy Come Home von 1966, prangerte er in formal ungewöhnlicher Weise die Wirkungslosigkeit öffentlicher Wohlfahrt an. Ob er die Kraft der Solidarität unter Arbeitern beschwor (Looking for Eric), die linken Bruderkämpfe im Spanischen Bürgerkrieg aufarbeitete (Land and Freedom) oder die Erbarmungslosigkeit des britischen Sozialhilfesystems geißelte (Ich, Daniel Blake); mit innerem Furor und stilistischer Meisterschaft stellte sich Loach seit jeher auf die Seite der Ausgebeuteten und deckte die hässlichen Seiten des marktliberalen Umbaus der britischen Gesellschaft seit der Thatcher-Ära auf.

Wer nun Sorry We Missed You gesehen hat, versteht noch weniger, wieso die Briten den Konservativen kürzlich zum erneuten Wahlsieg verholfen und damit ihre Zustimmung zum weiteren Abbau des eh nur noch in Bruchstücken vorhandenen Sozialstaates gegeben haben. So himmelschreiend ist die Ungerechtigkeit, die Ricky Turner und seiner Familie widerfährt, dass am Ende nur ohnmächtige Wut bleibt auf eine Gesellschaft, in der die Chancen höchst ungleich verteilt sind und die Risiken auf den Einzelnen abgewälzt werden.

Die Turners, Ricky (Kris Hitchen), Abbie (Debbie Honeywood) und ihre zwei Kinder, haben Pech gehabt in der Finanzkrise 2008. Statt des erhofften Eigenheims sind ihnen nur Schulden geblieben, die Ricky von seinen Gelegenheitsjobs kaum zurückzahlen kann. Da erscheint die Chance, als selbstständiger Franchise-Unternehmer eines Paketlieferdienstes tätig zu werden, wie das große Los. Zunächst muss er sich freilich erneut hoch verschulden, um sich einen Lieferwagen zu kaufen ... Der Zuschauer ahnt gleich, wie die Sache ausgeht, zu oft hat er von solch sklavenähnlichen Ausbeutungsverhältnissen gelesen.

Empathie wird nicht bezahlt

Die angebliche Selbstständigkeit ist natürlich ein Witz, denn fortan bestimmt der Paketscanner über Rickys Lebensrhythmus. Am Anfang lacht er noch über den Rat eines Kollegen, immer eine Flasche für die Notdurft im Auto zu haben, am Ende schleppt er sich sogar krank und geschunden zur Arbeit, um den Schuldenberg nicht noch mehr anwachsen zu lassen. Dazwischen schildert Loach lakonisch und mit beklemmender Folgerichtigkeit den hoffnungslosen Kampf gegen den sozialen Abstieg, den Zerfall der Familie und um die eigene Würde.

Die Perfidität des britischen Arbeitsrechts verdeutlicht Loach am Beispiel von Rickys Frau Abbie, die als mobile Altenpflegerin einen sogenannten Null-Stunden-Arbeitsvertrag hat. Diese Verträge, die keine Mindestarbeitszeit festlegen, sondern ständige Verfügbarkeit und Arbeit auf Abruf diktieren, zementieren das moderne Tagelöhnertum der im Niedriglohnsektor Tätigen. In der Praxis sieht es so aus, dass Abbie zwölf Stunden lang für ihre Pflegebesuche unterwegs ist, aber nur sechs oder sieben Stunden Mindestlohn bezahlt bekommt. In Großbritannien weitverbreitet, sind solche Arbeitsmodelle hierzulande (noch) nicht zulässig, auch wenn sich der Arbeitsalltag im Pflegebereich nicht deutlich von jenem in England unterscheidet. Abbie kann sich abstrampeln, wie sie will – ihr bleibt nie genug Zeit, um sich um die Belange ihrer „Klienten“ wirklich zu kümmern. Ihre Empathie den Alten gegenüber nützt wenig, wenn menschliche Zuwendung im System weder vorgesehen ist noch bezahlt wird.

Am Ende hat der Zuschauer einen typischen Ken-Loach-Film gesehen, der in seiner geradlinigen und schlüssigen Inszenierung seine eindringliche Wirkung entfaltet. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgängerfilme gibt es in Sorry We Missed You keinen Hoffnungsschimmer zum Schluss, keinen Akt der Befreiung oder des Aufbegehrens. Haben Ken Loach und sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty resigniert? Nachzuvollziehen wäre es, siehe oben. Dass Labour-Chef Corbyn mit seiner explizit sozialen Agenda die jüngste Wahl – aus welchen Gründen auch immer – krachend verlieren würde, konnten Regisseur und Autor zum Zeitpunkt der Entstehung des Films freilich noch nicht ahnen. Aber sie wissen wohl, dass selbst bei einem Wahlsieg Labours keine schnellen Änderungen zu erwarten gewesen wären – zu tief hat sich der Neoliberalismus in die Gesellschaft hineingefressen. Zum Glück scheinen die herrschenden Verhältnisse jedoch eher Ansporn für den mittlerweile 83-jährigen Regisseur zu sein, der eigentlich bereits 2014 seinen Abschied vom Filmemachen ankündigte, seitdem aber schon wieder zwei Filme gedreht hat.

Bei allem Pessimismus ist Loachs Werken stets etwas zu eigen, was über das unmittelbare Geschehen im Film hinausweist. Die Fragen, die er stellt, sind grundsätzlich: Kann dieses System nachhaltig sein? Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der Menschen unter solch enormem Druck und für solch wenig Geld schuften müssen, nur damit wir es uns noch ein bisschen leichter machen? Für Loach ist das Geschehen im Niedriglohnbereich kein Versagen des Kapitalismus, sondern dessen logische Konsequenz.

Info

Sorry We Missed You Ken Loach Großbritannien 2019, 101 Minuten

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