Die Welt von Gestern

Sozialökonomischer Essay Die globale Pandemie entzaubert unseren Individualismus. Gefragt ist die Gesellschaft als Gemeinschaft

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Eingebetteter Medieninhalt Weltfremde Superheld-Neurosen: Individualismus von Gestern (Aufschrift: Auf der Höhe der Zeit)

In den Nachrichten sind jetzt wir. Wir sind die Akteure des Films, der uns gestern noch wohlig schauderte: „Flieht! Ihr Narren!“; so ganz ohne Panikattacken mit Herzrasen und Unwirklichkeitsgefühlen. Wir waren so verdammt sicher, dass unser zivilisatorisches Dasein von derlei abgedrehten Fiktionen verschont bliebe. Doch manches alptraumhafte Erleben und leicht zu verurteilende Reaktions- und Folgegeschehen unserer Vorfahren tritt uns nun unvermittelt plastischer und erklärbarer vor Augen. Und vielleicht verstehen wir langsam – nach der alten Regel aus dem Geschichtsunterricht –, dass das Virus nur der Anlass, nicht aber die Ursache der gerade erst anlaufenden Wirtschafts- und Gesellschaftskrise ist. Um Leben zu bewahren und als Betriebssystem unserer Gesellschaftswirtschaft ist der vom schnellen Konsum und profitnotwendigem Wachstum getriebene Kapitalismus nicht mehr geeignet.

War das kriegseuphorische Augusterlebnis von 1914 mehr als eine vollkommen irre nationalistische Psychose? Man kann es getrost als die angstvoll-erhebende Überkompensation einer schon damals sprichwörtlich „gereizten“ und gespaltenen Gesellschaft interpretieren. Stefan Zweig (Die Welt von Gestern) schrieb seinerzeit keine Elogen auf den faktischen Beweggrund all dessen oder gar auf den moralischen Wert des Krieges wie Thomas Mann. Er konstatierte kühl, den schöpferischen Seiten der Begeisterung durchaus nicht abgeneigt: „Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten.“ Zweig trauerte wie kein Zweiter der Vorkriegswelt nach. In ihr war er ein Jemand, lebte gesichert, zivilisiert, kultiviert. Aber der akribische Beobachter ahnte sehr wohl, dass sie untergehen musste, ja, ihren Untergang selbst herbeigerufen hatte.

Geschichte in Gegenwart und Zukunft

Unser persönliches Handeln oder Unterlassen von vor zwei Wochen fällt in der Corona-Krise auf uns zurück. Selten kann man Geschichte so erschreckend gegenwarts- und zukunftswirksam erleben. Sie tritt nicht mehr in Gestalt eines harmlosen Lehrbuchs auf, sondern womöglich mit von uns bewirkten und potenziell tödlichen Infektionen. Was sich für Gesunde abstrakt anhört, ist für Kranke konkret. Nur beide zusammen erkennen den gesellschaftlichen Zusammenhang und erzeugen rücksichtnehmenden Zusammenhalt. Ähnliches gilt auf ökonomischer Ebene für die Selbstbestimmung des Reichen und die Fremdbestimmung des Armen. Dabei ist Geschichte noch nie die ad acta gelegte Universalweisheit gewesen – „griffbereit wie eine Tafel Schokolade“, wie Rainald Grebe einst treffend das TV-Geschichtsentertainment besang.

Aber genau so wurde uns die endlos wiederholte Erfolgsgeschichte des Kapitalismus serviert. In Gestalt einer unerreichbaren, dafür aber unwiderstehlich süßen Schokolade. Der Plot war entwaffelnd einfach: die Entfesselung des Individuums.

Was seit der Aufklärung als antifeudal-altliberaler Idealtypus der Privatautonomie in unsere Verfassungen und bürgerlichen Gesetzbücher Eingang gefunden hatte, wurde mehr und mehr zur systemrelevanten Durchhalteparole bürgerlich-neoliberaler Wirklichkeitsverweigerung. Mochte der Idealtypus bei der Bestimmung persönlicher Freiheiten hilfreich sein, führte er in der Wirtschafts- und Sozialethik der arbeitsteiligen Gesellschaftswirtschaft zur Herrschaft des blanken materiellen Eigennutzes. Das idealisierte Menschmodell des selbstermächtigten, autonomen Individuums musste man sich eben erst einmal leisten können. Entgrenztes Privateigentum und die Anhäufung hierdurch vermehrter Ansprüche an das Leistungsvermögen der Gesamtgesellschaft schienen glänzend dazu geeignet.

Wollen wir uns davon lösen, müssen wir Gesellschaft als gemeinschaftliches Gesamtkunstwerk denken, nicht als Arena von Individualsportlern mit Hang zur Superhelden-Neurose. Und hier sind nicht nur stereotype „Karrieremenschen“, „alte weiße Männer“ und skrupellose Krisenprofiteure gemeint. So manche links-hippe Großstadtmoralisten unserer Tage haben sich ebenfalls einen realitätsfremden Überlegenheitsmodus zur Identitätskontrolle ihrer im Innersten wohl als machtlos empfundenen Existenz zu eigen gemacht.

„Doch du lebst länger als ein Leben lang“

Kein Einzelwesen der Gattung Mensch hat je allein existiert, allein über sich bestimmt, allein souverän gehandelt. Die Geschichte kennt – da sie eine Entwicklung und keinen Zustand beschreibt – junge, erwachsene, alte, geschlechtliche, kranke, gesunde, arme, reiche, schwache, mächtige, ländliche, städtische… also mehrdimensionale und biographische Individuen. Diese bilden ein überindividuelles Rollen- und Beziehungsgeflecht, dessen komplexe Grundstruktur gegenseitige Existenzbestätigung und Existenzerhaltung bleibt. Verstehen wir die Mitmenschen nicht mehr, sehen wir die Existenzgrundlage unseres Selbst nicht und ziehen der solidarischen überindividuellen eine selbstbezogene imaginäre Zukunftsvision vor. Beste Chancen also für Angst, Unsicherheit, Selbsttäuschung und alle möglichen (kommerziellen) Angebote seelischer Ersatzteile.

Das in der Zeit stehengebliebene kapitalistische Narrativ handelt stets nur von den immergleichen, souveränen, nutzenmaximierenden, ort- und zeitlosen, scheinbar so selbstständigen wie selbstberechtigten, also autonomen Individuen. Machen wir uns nichts vor, wir sind mit diesem geschichts- und beziehungsblinden Homunkulus nicht nur infiziert. Wir zeigen eindeutige Symptome in unserer Wahrnehmung und in unserem Verhalten. Ganz bürgerlich: Haben Sie aktuell schon ihr Aktiendepot auf den Füllstand ihrer „privaten Altersvorsorge“ überprüft? Nur Infizierte haben da kein krisenerfahrenes Déjà-vu, das sie die irre Rationalität einer als Profitrate konstruierten Rente anzweifeln lassen würde.

Der homo oeconomicus ist der reduktionistischen und rationalistischen Frühaufklärung eines William Petty und eines Thomas Hobbes entfleucht. In der modernen Wirtschaftswissenschaft seit Adam Smith ist er vom Sein-Sollen zum Sein kultiviert geworden. Er hat sich popularisiert und hat es sich in unseren Wahrnehmungsmustern, Weltvorstellungen und in den juristischen Regeln bequem gemacht. Er ist präskriptive Wirklichkeit geworden. Setzen wir diesem theoretisch-klar daherkommenden, aber normativen Menschenbild nicht das evolutive Geworden-Sein und Werden des realen Menschen entgegen, werden wir die „autonomen“ Anteile unseres Über-Ichs nicht kritisch hinterfragen können.

Corona-Nebenwirkungen und völkische Gefahr

Die Eigenverantwortung hat im Deutschland der letzten 30 Jahre ihren ursprünglich liberalen Gehalt für zu viele Gescheiterte oder Gefährdete verloren. Sie interpretieren sie lediglich noch als Vereinzelung, Windmühlenkampf, Souveränitätsverlust und Verlorensein. Eine individuelle Wahrnehmung von Gemeinverantwortung weisen nicht wenige von ihnen als mürbe gemachte Enttäuschte weit von sich, wenngleich sie diese von anderen umso mehr einfordern oder „Volksverräter“ für vermeintliche Nichterfüllung mit Häme und Hass überziehen. Abgehängtfühlen, Gesichtsverlust und Verbitterung verbürgen die Langzeitvergiftung von gesellschaftlicher Existenzbestätigung und Existenzerhaltung.

Ausgerechnet die Nebenwirkungen der Corona-Ausgangsbeschränkung machen Phänomene von gesellschaftlicher Isolationserfahrung nun auch für diejenigen nachvollziehbarer, die bisher dachten, „uns“ gehe es gut. Wie aus dem Nichts wird ihnen bewusst, dass im Einzelhandel, im Altenheim, im Krankenhaus, auf den Baustellen oder in den LKW mit dem Klopapier tatsächlich ausgebeutete Menschen arbeiten. Und zwar oft solche, deren Anwesenheit den Allermeisten überhaupt unbekannt ist. So sind hunderttausende schwarzarbeitende osteuropäische Pflegekräfte, die Deutschland jetzt in Richtung ihrer Familien verlassen, plötzlich ein systemrelevantes Problem. „Illegale“ sind eben doch willkommen, solange sie ihre Arbeit still und leise tun und gerade keine Pandemie über die Welt schwappt.

Drohender Terror im Schatten der Krise

Wer den sozialen Existenzzusammenhang als vages oder bereits gebrochenes Versprechen wahrnimmt, der entwickelt nicht nur ein gesteigertes Bestätigungsbedürfnis. Er entwickelt durchaus ein explosives Aggressionspotenzial und je nach vermuteter Ursache ein Rachegefühl. Die ins Völkische und Rassistische verlegte Imagination einer Ersatzgemeinschaft als Kompensation individuellen Kontrollverlusts sowie das Gefühl des Aufgehobenseins in einer derartigen Selbstbestätigungsgruppe haben ihre Ursachen auch an diesen Bruchstellen. Für Entfremdete mit erweitertem Kontrollbedürfnis sind schließlich alle nicht unmittelbar erfahrbaren Geschehnisse und Nachrichten darüber nur noch „gemacht“, „zugelassen“, „herbeigeführt“ und „verschuldet“ – nicht einfach mal „aufgetreten“ oder „passiert“.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich an der Situation einer allgemeinen und unklaren Bedrohungslage alle diejenigen Kräfte berauschen, die glauben, mithilfe eines Ausnahmezustands ihr Freund-Feind-Verständnis von Existenzbestätigung und Existenzerhaltung ausweiten zu können. Insofern sind die aktuellen Maßnahmen und Urteile gegen sogenannte „Reichsbürger“ und rechtsextreme Revolutionäre das richtige Signal. Die neueste Entwicklung der Hassspirale im Netz zeigt jedoch, dass dringend noch mehr getan werden muss. Der völkische Gedanke ist seit dem historischen Nationalsozialismus noch nie so unverhohlen und massenhaft in Mord- und Vernichtungsphantasien einer revolutionären Erlösungsgewalt abgedriftet, wie in diesen Tagen. Deshalb darf der Ausnahmezustand nach Möglichkeit nicht zu lange andauern.

Der Balken im eigenen Auge

Mit den Fingern auf andere zeigen kann nicht alles bleiben. Insbesondere die verschiedenen Subspezies der Moralisten sind angesprochen. Das autonome Individuum liegt nicht nur unserer Sozial- und Wirtschaftsideologie, sondern vor allem auch unserem Selbstschutz zugrunde. So macht unsere unabhängig-korrekte Attitude schnell den Eindruck, jeder Einzelne könne frei entscheiden, ob er vormittags in einer hochindustrialisierten Gesellschaft nachhaltig lebt oder ob er nachmittags im Kapitalismus ein faires Wirtschaftssystem vollzieht. Das geht so weit, dass wir die in unserem Rechtssystem verankerte Interessenkollision zwischen Abhängigen und Souveränen, z. B. zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, mit derselben schizophrenen Wir-sind-Partner-Rhetorik verschleiern wie jene, für die „flexible Arbeitszeit“ und Selbstausbeutung noch nie ein Widerspruch war.

Selbst strenge Gesellschaftskritiker müssen ab und zu verdrängen, dass allein ihre pure Existenz als Element der westlichen Zivilisation obsolet geglaubte Ausbeutungsverhältnisse und Umweltschädigungen rund um die Welt hervorruft. Was würde ihnen die permanente Selbstbezichtigung und das schlechte Gewissen auch bringen? Dass sie diese mit einer Haltung verarbeiteten, die man nicht mehr mit dem abgedroschenen „alternativ“, sondern klar als „zynisch“, weil notwendig „zivilisationsbrüchig“ umschreiben müsste. Karl Marx, zeit seines Lebens aus der bürgerlichen Gesellschaft ins prekäre Exil verstoßen, verdrängte und vergab sich selten etwas und hoffte gerade deshalb auf die gewaltsame revolutionäre Lösung. Wir geben das angenehm liberale Dasein in der „Ersten Welt“ ungern völlig auf. Dazu pflegt man doch jenes selbstzufriedene, überlegene Selbstbild, das Raum für Richtiges im Falschen schafft!

Ein Denkmodell, das Menschen tötet oder Der globalisierte „Crash“

Jeder, der meint, die Autonomie des Individuums sei ja nur ein Denkmodell, der sollte sich vor Augen halten, wie konsequent dieses sterile Gedankenbild Mütter, Väter, Kinder, (Ur-)Großeltern, Pflegekräfte, Ärzte, Beamte, Arbeitnehmer, Unternehmer, Behinderte, Kranke usw. – also konkret und gemeinschaftlich auf einander angewiesene Mitmenschen und funktionale soziale Rollen – bei vielen Corona-„Verweigerern“ aus der Wahrnehmung herausschneidet. Wir sahen und werden sehen, wohin das „Denkmodell“ in den angelsächsischen „Heimatländern“ des kapitalistischen Narrativs führt. In den USA wird auf die hunderttausenden Toten der Dauer-Gesellschaftskrise, die zuletzt verharmlosend als „Opioid-Epidemie“ kleingeredet wurde, das Massensterben der Corona-Pandemie samt Gesundheitssystem-Infarkt und Wirtschaftskrise folgen.

Was wird erst aus Indien, aus den asiatischen und afrikanischen Ländern, in denen billig für uns gearbeitet wird? „Gott hilf!“, möchte der Atheist ja schon fast rufen. Das autonome Individuum aber braucht noch nicht einmal diese instinktiv kompensatorische Reaktion der Verantwortungsabgabe. Es antwortet mit der gewohnten Soziopathie des Verschweigens: „Mir geht’s gut, ich weiß gar nicht, was ihr habt.“ Papst Franziskus war an der Stelle schon direkter: „Diese Wirtschaft tötet.“ Wir werden bald wissen, in welchen Ausmaßen er Recht behalten soll.

Die Gemeinschaft der Gesellschaft

Das globale „Kontaktverbot“ lässt den evolutiven Existenzzusammenhang aller Menschen wieder tiefer in unsere Herzen und Hirne dringen. Es liegt an uns, die wir neuerdings harte Einschnitte in unsere Freiheit zum Vorteil des Gemeinwohls akzeptieren, ob diese Solidarität es dauerhaft und nachhaltig schafft, unser geistiges autonomes Individuum durch das soziale, besser noch gemeinschaftliche Individuum abzulösen. Diese Chance kommt wohl so schnell nicht wieder, denn noch ist zumindest für die Länder mit „Rettungsschirmen“ zu befürchten, dass die Privilegierten am Ende doch wieder in das alte Hamsterrad zurückkehren. Dort würde uns der Alltag schnell einholen; wir kontrollierten durch unser Tun irgendetwas und wären irgendwie befriedigt – während wir nur weiter mühelos auf der Stelle treten.

Nach dem „Wir schaffen das“ von 2015 müssen wir die Kanzlerin jetzt erneut beim Wort nehmen. Angela Merkel und wir alle pflegten viel zu lange einen „Wir“-Begriff, der die freiheitliche Gesellschaft meinte, aber realiter auf die individualistische hinauslief. In der Pandemie ersetzt Merkel häufig den Begriff Gesellschaft durch die Gemeinschaft und findet damit zu einer im öffentlichen Bewusstsein lange verschütteten Dichotomie zurück. Das soziale Wir muss aus dieser Dichotomie neu entstehen, bevor der Kapitalismus und jeder Einzelne für sich in seine Welt von Gestern zurückkehren können. Das Ziel ist nichts Geringeres als die soziale, ökonomische und ökologische Selbstbesinnung des Anthropozäns: die Gemeinschaft der Gesellschaft.

Der Autor ist im Netzwerk Plurale Ökonomik aktiv, das sich seit langem mit den transformativen "Chancen des nächsten Crashs" beschäftigt. Frank Fehlberg hinterfragt v.a. den Zustand der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, insbesondere die blinden Flecken der institutionalisierten Volkswirtschaftslehre. Er plädiert für das Wissenschaftsmodell der Sozialökonomik, das historisch-soziale, ethisch-rechtliche und theoretische Perspektiven in Anlehnung an Max Weber u.a. wieder in eine Disziplin integrieren soll. Vgl. u.a. seinen Beitrag "Sozialökonomik und Kapitalistik" (2016).

Zitate: "Flieht! Ihr Narren!" - Filmfigur Gandalf, in: Herr der Ringe - Die Gefährten (nicht mit "Fliegt!" übersetzt); „Doch du lebst länger als ein Leben lang“ - Nachzuhören bei Madsen - Du schreibst Geschichte; "Der globalisierte Crash" - Anspielung auf "L.A. Crash" (dt. Filmtitel), Oscar-prämiertes Episodendrama, das man als Modellstudie der inneren und äußeren Segregation der US-Gesellschaft lesen kann.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frank Fehlberg

Historiker und Sozialwissenschaftler

Frank Fehlberg

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