Filmbesprechung: „Ich, Daniel Blake“

Bürokratie vs. Leben Die Geschichte von Daniel Blake steht exemplarisch für unendlich viele Menschen, die vom Räderwerk des sogenannten „Arbeitsmarktes“ und der daran angeschlossenen Ämter zermahlen werden.

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Dieser Film ist gar nicht genug hochzuschätzen.
Wann immer über Arbeitswelten oder Arbeitslosigkeit geredet wird, sollte „Ich, Daniel Blake“* Pflichtprogramm werden.
Es bräuchte solcher Filme hundert mehr, die von der Wirklichkeit im repressiven Arbeitssystem erzählen und von den Menschen, die von diesem System hin- und hergeschoben werden.
Wer ein schlagendes Herz in der Brust hat, müsste exzessiv weinen in Anbetracht dessen, wie unwürdig und unfrei die meisten, fast alle Menschen doch leben müssen: Jene, die sich als Arbeitslose dem bürokratischen Sanktionsregime der diversen Ämter unterwerfen müssen und jene, die vielleicht grad in Arbeit stehen, aber von der Abstiegsangst, hinunter nach ebenda, getrieben werden. Oft nur unbewusst, aber die Angst, sie ist da, und zu Recht.
Der Abstieg, er geht schnell und in Krisenzeiten nochmal ungleich schneller.

Die Geschichte von Daniel Blake steht exemplarisch für unendlich viele (die allermeisten) Menschenleben, die vom Räderwerk des sogenannten „Arbeitsmarktes“ zermahlen werden.
Der 59-jährige englische Zimmermann Daniel Blake findet sich nach einem Herzinfarkt, von den Ärzten arbeitsunfähig geschrieben, am Arbeitsamt wieder.
Sozialhilfe will man ihm hier nicht gewähren, das mit der Arbeitsunfähigkeit glaubt man ihm nicht, sondern schickt ihn hinein in den Kreislauf aus Bewerbungen, Motivationskursen und Amtsterminen, wie ihn jeder Arbeitslose zu durchlaufen hat.
Druck und Zwang sind die Mittel, die von oben herab wirken: Wer nicht mittut und sang- und klanglos kooperiert, wird mit sogenannten „Sanktionen“ belegt, das heißt, ihm wird das benötigte Geld gestrichen, die Lebensgrundlage entzogen.
Es ist ein System der Erpressung und Zwangserziehung, derart operiert man an Erwachsenen herum.
Kleinste Fehler wie ein unpünktliches Erscheinen haben sofortige, harte Konsequenzen.

Daniel erlebt dies vor Ort am Beispiel der alleinerziehenden Katie.
Die junge Frau erklärt den Mitarbeitern am Amt, sie sei neu in der Stadt und hätte sich mit dem Bus verfahren, weswegen sie wenige Minuten zu spät zum veranschlagten Termin erschienen ist. Die Mitarbeiter am Arbeitsamt hören nicht wirklich zu. Für sie ist der Fall einfach: Person kommt zu spät, Person verhält sich unkooperativ, Person wird sanktioniert.
Dass Katie nun kein Geld hat, um ihren Kindern und sich selbst ein Essen auf den Tisch zu bringen, ist für die Amtsleute nicht weiter von Belang. Für Katie geht es ums nackte Überleben, aber je verzweifelter sie argumentiert („Ich habe nur noch zwölf Pfund!“), umso rigider wird sie hinauskomplimentiert. Im Amt ist kein Platz für Verzweiflung oder Verständnis, es gibt nur Pflichten und Sanktionen, Vorschriften und Zahlen auf einem Bildschirm.
Genauso herz- und erbarmungslos arbeitet die „korrekte“ Maschinerie der Arbeitsämter.

In der Filmszene springt Daniel für Katie in die Bresche und versucht zu vermitteln – aber selbst zu zweit sind sie machtlos gegen die übermächtige Macht des Amtes und dessen Erfüllungsgehilfen. Obwohl sich ein weiterer Wartender sogar bereit erklärt, Katie vorzulassen, damit diese ihren Termin trotz Verspätung noch wahrnehmen kann, werden Katie und Daniel schließlich vom Security-Personal abgeführt.
Zuvor wird Daniel noch zurechtgewiesen:
„Sie müssen sich da nicht einmischen. Hier versucht jeder seine Arbeit zu machen, also spielen Sie sich nicht so auf.“
„Das geht Sie nichts an und ich möchte, dass Sie jetzt auch gehen. Wir halten uns nur an die Vorschriften.“
Ebenfalls droht man, die Polizei einzuschalten.

Nein, es ist nichts auszurichten gegen die sturen Technokraten, die die Probleme der Untergebenen nicht mal hören wollen.
Katies Gelder werden erbarmungslos gekürzt.
Daniel hängt derweil am Telefon stundenlang in der Warteschleife, in der Hoffnung, seinen Fall zu besprechen. Der Anruf ist gebührenpflichtig, wird Daniel informiert, dann stundenlang Warteschleifenmusik, und zwar Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Wie ein Hohn klingt der fröhliche „Frühling“ in den Ohren des Mannes, über dessen nackte Existenz am anderen Ende der Leitung entschieden wird. Eine Stunde 48 Minuten später meldet sich jemand – ein kostspieliges Telefonat, das Daniel in seiner Sache außerdem kein Stück weiterbringt.

Nachdem die Erlebnisse auf dem Amt Daniel und Katie zusammengeführt haben, entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden. Auch Katies Kinder hat Daniel schnell ins Herz geschlossen.
Man hilft sich gegenseitig, so gut man kann.
Daniel begleitet Katie zur Lebensmittelausgabe, vergleichbar mit den hierzulande bekannten „Tafeln“, wo Bedürftige für gespendete Lebensmittel anstehen.
Immer wieder merkt man als Zuschauer, wie schwer es ist, sich in diesen Lebensrealitäten sein bisschen Würde zu bewahren.
Aber auch immer wieder begegnet man freundlicher Hilfsbereitschaft im Film; nur kaum je von amtlicher Stelle.
Junge Menschen helfen dem älteren Daniel am Computer, mit dem er sich einfach nicht anfreunden kann.
Daniel seinerseits schnitzt ein hübsches Mobile für Katies Kinder, repariert Kaputtgegangenes in ihrer desolaten Wohnung.
Im Gegenzug darf Daniel mit am Esstisch sitzen und Katie besteht darauf, ihm einen gefüllten Teller vorzusetzen, wenngleich das auch bedeutet, dass sie selbst hungrig zu Bett gehen wird - was sie natürlich nicht zugeben kann, ohne ihren Stolz zu verlieren.
Man versucht es, aber die gegenseitige Hilfe hat nun mal Grenzen.
Dass vom Amt keine wirkliche Hilfe zu erwarten ist, bringt Daniels jugendlicher Nachbar auf den Punkt:
„Erwarte keine Hilfe von denen. Die machen es dir so schwer wie möglich. Ist kein Zufall.“
So ist es denn auch.
Primäre Aufgabe dieser Ämter ist es, die Menschen klein und unfrei zu halten und nicht etwa ihnen Wind unter die Flügel zu pusten, es ist offensichtlich.

Wie bei Kafka wird Daniel im Kreis geschickt.
Um an Geld vom Amt zu kommen, füllt Daniel schließlich einen Antrag auf Arbeitslosenunterstützung aus.
Seine Betreuerin erklärt ihm die Regeln: „Sie sind verpflichtet, 35 h pro Woche in die Arbeitssuche zu investieren.“
Daniel wirft ein: „Meine Ärzte haben gesagt, dass ich noch nicht wieder arbeiten soll.“
„Dann sollten Sie besser Sozialhilfe beantragen.“
„Das hab ich. Wurde von irgendeinem Kurpfuscher abgelehnt. Ich leg Widerspruch dagegen ein.“
Die Betreuerin, ziemlich von oben herab: „Okay, nun, das ist Ihre Entscheidung, Mr. Blake.“
Daniel, darauf hinweisend, worum es eigentlich geht, für ihn nämlich um alles, erwidert:
„Nein, das ist NICHT MEINE Entscheidung. Ich habe kein weiteres Einkommen!“
Kühl fordernd sogleich die Betreuerin: „Unterschreiben Sie diese Erklärung oder nicht?“
(Er unterschreibt.)
Nachdem dieser Punkt abgehakt ist, geht die Betreuerin rasch zur nächsten Frage über: „Dürfte ich mal Ihren Lebenslauf sehen?“
Das Problem: Daniel hat keinen solchen zur Hand, woraufhin die für ihn Zuständige nun sichtlich genervt reagiert:
„Sie verstehen es noch nicht richtig, stimmt’s, Mr. Blake?
Das ist eine Vereinbarung zwischen Ihnen und dem Staat…“
(Sie deutet auf ein Stück Papier.)
„Wenn Sie arbeiten wollen, dann brauchen Sie einen aktuellen Lebenslauf.
Ich hätte da einen Workshop für Sie, ‚Wie schreibe ich einen Lebenslauf‘, für den ich Sie gerne eintragen würde. Er findet am Samstag statt.“
Daniel: „Nein, danke, das krieg ich allein hin.“
Antwort der Betreuerin, gedehnt: „Nein, Mr. Blake, das ist eine offizielle Anordnung. Sie werden daran teilnehmen (Pause), wenn Sie weiterhin Arbeitslosenunterstützung beantragen wollen.“
„Und wenn ich nicht daran teilnehme?“
„Dann muss ich darauf hinweisen, dass wir das sanktionieren.“
Sanktionieren, das bedeutet: Kein Geld, kein Leben, das weiß Daniel an dieser Stelle bereits.

Schnitt auf den Workshop, an dem Daniel Blake – natürlich - teilnimmt.
Der Referent zählt „Fakten“ auf:
- 10 Sekunden nimmt sich der typische Arbeitgeber, um einen Lebenslauf zu überfliegen.
- 60 Bewerbungen gibt es auf jeden geringqualifizierten Job.
- 1300 Bewerbungen auf acht Stellen bei einer Kaffeehauskette.
„Was sagt uns das?“ fragt der Referent in die Runde.
Daniel schließt daraus: „Es gibt nicht genügend Jobs – Fakt.“
Der Workshopleiter hingegen:
„Wenn Sie sich nicht genug anstrengen, stehen Sie ganz hinten in der Schlange.
Für die Realisten unter uns bedeutet das: Sie müssen aus der Masse herausstechen. Fallen Sie auf, beweisen Sie Köpfchen. Heutzutage reicht es nicht mehr, nur gewisse Fähigkeiten zu haben. Sie müssen beweisen, wie interessiert Sie sind. Wie engagiert.“

Hier wird das Märchen von den Chancen und Möglichkeiten ganz wunderbar entzaubert.
„Du kannst es schaffen“ gilt immer nur für den erfolgreichen Einzelfall, hinter dem aber die Masse der Erfolglosen steht.
Der Workshopleiter fokussiert auf den einen erfolgreichen unter den 60 Bewerbern; Daniel aber schaut auf die 59, welche zwangsläufig leer ausgehen müssen. Und wenn sich alle 60 auch noch so sehr anstrengen, es werden immer 59 auf der Strecke bleiben. Oder eben 1292 gegen 8 Personen, die vielleicht mit einer Anstellung im Kaffeehaus rechnen können.
Ein Sinnlosspiel, so zu tun, als gäbe es Jobs für alle. Es gibt nur immer härtere Konkurrenz und eine enttäuschte Masse, die es in Schach zu halten gilt – womit wir wieder bei der Aufgabe der Ämter und Workshopleiter wären.
Am Ende geht es immer auch darum, den Preis für menschliche Arbeit zu drücken, indem ein arbeitsloses Heer in Reserve gehalten wird. Wenn Lohnabhängige etwaige Bedingungen nicht akzeptieren, können sie umgehend ersetzt werden.
Daniel schaut auf die Mehrheit und das Ganze, der Referent hat nur den Einzelnen im Blick und seine Aufgabe, den Einzelnen zu trainieren und unfrei zu halten.

Wenig später.
Daniel hat seine Arbeitssuche zwar fleißig betrieben, hat diese aber nicht ausreichend dokumentiert. Dem Amt missfällt das. Nicht gut genug.
Konsequenz: Vier Wochen Leistungsentzug.
Das Amt erläutert:
„Trotz Leistungsentzug müssen Sie sich weiterhin auf Arbeitssuche begeben. Und falls nicht, werden Ihnen möglicherweise erneut Leistungen gestrichen. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass es beim zweiten Mal dreizehn Wochen sind und so weiter. Es kann sein, dass das bis zum Maximum von drei Jahren geht.“
Sichtlich genießt es die Frau vom Amt, Daniel derart zu belehren, Macht auszuüben. Fast lächelt sie höhnisch, während sie die Worte spricht.

Nächster Termin.
Diesmal sitzt Daniel eine freundlichere, mitfühlendere Frau gegenüber.
Im Gesprächsverlauf bricht es aus Daniel heraus:
„Es ist eine Riesen-Farce, nicht wahr?
Sie sitzen da mit Ihrem hübschen Namensschild auf der Bluse, Ann, Ihnen gegenüber ein kranker Mann auf der Suche nach nicht existenten Jobs, die er gar nicht annehmen kann. Ich verschwende meine Zeit, die der Arbeitgeber, Ihre Zeit.
Jedenfalls erniedrigt es mich. Es zermürbt mich.
Oder geht es darum, dass mein Name aus dem Computer verschwindet?
Ich spiel da nicht mehr mit, mir reicht es.
Ich will endlich Widerspruch einlegen gegen die Ablehnung der von mir beantragten Sozialhilfe.“
Die Frau versucht ihn zu besänftigen:
„Bitte hören Sie mir zu, Dan.
Führen Sie Ihre Nachweise fort.
Ansonsten verlieren Sie am Ende noch alles.
Ich hab das schon erlebt, Dan. Gute Leute, ehrliche Menschen, auf der Straße.“
Daniel:
„Danke Ann, aber wenn man seine Selbstachtung verliert, ist man erledigt.“

Daraufhin verlässt Daniel das Amtsgebäude und fängt an, Folgendes an die Gebäudemauer zu sprayen:
„Ich, Daniel Blake, fordere meinen Widerspruchstermin, bevor ich verhungere. Und ändert die Scheißmusik am Telefon!“
Letzteres bezieht sich auf die Vivaldi-Klänge in der Warteschleife des Amtstelefons.
Interessant an dieser Stelle ist, dass die Menschen außerhalb des Amtsgebäudes ganz anders reagieren als das im Inneren oft der Fall war. Im Inneren, wo die Leidensgenossen in erster Linie Untergebene sind, die sich besser ruhig verhalten, um nur ja keine Nachteile befürchten zu müssen, hatte es bislang niemand gewagt, Daniel oder Katie beizuspringen bei ihren zaghaften Versuchen, sich gegen die Machtspiele des Amtspersonals zur Wehr zu setzen. Die meisten schauten verschämt weg und wussten ja doch, dass sie selbst nur kenntlich gemachte Antragsteller sind, über deren Gedeih und Verderb innerhalb dieser Amtsstuben entschieden wird. Da ist es natürlich besser, nicht negativ aufzufallen.
Hier draußen auf der Straße verhält es sich anders.
Für Daniels Spray-Aktion gibt es spontanen Applaus von der anderen Straßenseite. Eine Gruppe junger Frauen in Feierlaune prostet herüber. Jugendliche machen stolze Selfies mit Daniel in ihrer Mitte. Ein Obdachloser stellt sich Daniel zur Seite und feiert ihn wie einen Helden.
Nur eine Passantin macht sich sogleich auf, um Daniel zu verpetzen. Mit den Worten: „Warten Sie nur, bis die Security das sieht!“ tigert sie hinterlistig ins Amt hinein.
Natürlich kreuzt dann auch bald schon die Polizei auf und führt Daniel ab, was die inzwischen versammelte Menge mit Buh-Rufen quittiert.
Einmal mehr merkt man, wie Amt und Polizei Hand in Hand gegen die Menschen arbeiten.
Zynisch könnte man anmerken, dass das Amt dir im schlimmsten Fall dein Obdach und deinen gedeckten Tisch wegnimmt, während für den Fall, dass dich die Polizei einbuchtet, zumindest für Unterkunft und Verpflegung gesorgt ist.
Auf der Polizeistation gibt es für Daniel erst mal nur eine Verwarnung.
Eingebuchtet wird er nicht, nur einmal mehr belehrt.

Nicht alles soll vorab verraten werden, aber glückliches Ende darf man sich nicht erwarten.
In der vorletzten Filmsequenz flackert nur kurz mal die Hoffnung auf, dass Daniels Fall doch noch positiv beschieden werden könnte.
Daniel hat für diesen wichtigen Termin ein wohlüberlegtes Plädoyer vorbereitet, das er selbst vorzutragen gedenkt, aber vorgetragen wird dieses erst an einer anderen Stelle.
An welcher, wird hier nicht gespoilert. Daniels eindrucksvolle Worte wiedergeben möchte ich allerdings schon:
„Ich bin weder ein Klient, ein Kunde noch ein Leistungsempfänger. Ich bin kein Drückeberger, kein Schnorrer, kein Bettler und kein Dieb. Keine Sozialversicherungsnummer und kein Pünktchen auf dem Bildschirm. Ich habe meine Beiträge gezahlt, niemals einen Penny zu wenig und darauf bin ich stolz. Ich werfe mich nicht vor anderen in den Dreck. Ich schaue meine Nachbarn an und helfe ich ihnen, wenn ich kann.
Nach Almosen zu trachten ist mir fremd.
Ich heiße Daniel Blake.
Ich bin ein Mensch und kein Hund. Als solcher verlange ich mein Recht.
Ich verlange respektvollen Umgang.
Ich, Daniel Blake, bin ein Bürger. Nicht mehr, und nicht weniger.“

Seit 2016, da der Film „Ich, Daniel Blake“ gedreht wurde, hat sich die Welt erheblich verändert.
Für die Daniel Blakes dieser Welt ist sie, man kann es sich kaum vorstellen, nochmal dramatisch schlechter geworden.
Noch unerschwinglicher das tägliche Leben, teurer nahezu jedes Produkt; noch harscher und rigider sämtliche Rahmenbedingungen. Die Schlangen vor den Tafeln, wo für gespendete Lebensmittel angestanden wird, sind nochmal länger geworden, die Spenden weniger. Chancen und Perspektiven: In eine noch weitere Ferne gerückt.

Schlechte Entwicklungen, wohin man schaut.
Die italienische Regierung hat erst kürzlich mit einem Schlag hunderttausenden Bürgern die Sozialhilfe gestrichen**. Einfach mal so.
In Australien bekommen Sozialhilfeempfänger kein „richtiges“ Geld mehr, stattdessen eingeschränkte „Zahlkarten“, mit denen man bestimmte Güter wie Alkohol, Spiele oder Geschenkgutscheine nicht kaufen kann.***
Das ist einmal mehr entwürdigend und entmündigend und es besteht die Gefahr, dass das Schule macht: Eine Art Zweite-Klasse-Geld für Zweite-Klasse-Menschen.
Die Diskussion rund ums Bargeld ist unter diesem Aspekt ebenfalls kritisch zu betrachten: Jede bargeldlose Zahlung kann schließlich zurückverfolgt und dem Empfänger staatlicher Stütze irgendwann irgendwie zur Last gelegt oder streitbar gemacht werden.

Das Schreckliche ist schrecklich normal geworden und passiert direkt unter uns jeden Tag.
Wie unfrei wir doch in Wirklichkeit sind, wie unwürdig das alles!
Man ist regelrecht verpflichtet, sich selbst und seine Körper- und Geisteskraft an andere zu überantworten. Wie schrecklich eigentlich!
Entweder in Arbeit stehen und sich dem Takt eines Werkes unterwerfen oder sich dem Takt der Ämter unterwerfen und alles daransetzen, in Arbeit zu stehen.
Dazwischen gibt es – offiziell – nichts.
Das sind die beiden Optionen, zwischen denen man wählen kann, sofern man nicht durch ein reiches Erbe, familiäre Unterstützung oder einen Lotto-Sechser freigespielt wurde.
Es gilt als „normal“, dass sich der Arbeitssuchende noch nicht mal ins Ausland bewegen darf. Pausenlos muss er sich dem Arbeitsmarkt verfügbar halten.
Er verfügt nicht über sich selbst.
Wie unwürdig und unfrei ist das denn? Wie kann man das als „normal“ empfinden?
Die Richtung stimmt oft so gar nicht.
Immer mehr werden die Arbeitslosen gegängelt.
Zumutbarkeitsgrenzen werden sukzessive zuungunsten der arbeitslosen Bittsteller verschoben, Arbeitsrechte werden rückgebaut und immer wieder hört man absurde Sprüche vom vermeintlich „zu üppigen“ Arbeitslosengeld.
Das soziale Sicherungsnetz, das abstürzende Menschen auffangen soll, wird fälschlicherweise oft als „Hängematte“ bezeichnet. Gemütlich ist es hier nicht, das weiß, wer drinhängt.

Wie viele Menschen kennen nicht diese gespielt höflichen Anreden, das vordergründig korrekte Schalten und Walten der Ämter, wohinter sich aber doch nur schwarze Pädagogik verbirgt!
Aus den Schulen haben wir diese vielleicht verbannt, und dennoch ist sie wesensstiftende Größe und allgegenwärtig. Kein Rohrstock war je so brutal wie diese „Sanktionen“, die dir nicht nur die Butter vom Brot, sondern wirklich alles nehmen können.

Ob sie sich nun „Arbeitsamt“, „Jobcenter“ oder „Arbeitsmarktservice“ nennen, im Grunde arbeiten diese Institutionen doch allesamt gleich.
In erster Linie geht es darum, die Menschen klein zu halten.
Klein und unfrei.
Selbstbestimmung und Würde nehmen sie hinweg und degradieren ein menschliches Gegenüber auf einen unmündigen Funktions- und Kostenfaktor. Einen Bittsteller.
Trotz der allgemein schlechten Chancenquote gibt es eine Beweislastumkehr und der Arbeitslose muss ständig nachweisen, dass er sich redlich bemüht, nur ja dem Markt, dem System zu entsprechen.
Es könnte doch auch umgekehrt laufen und das System könnte sich um die arbeitslosen Menschen bemühen und ihnen entsprechen, und zwar so lange, bis diese Menschen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt finden: Das wäre weitaus klüger und gerechter auch.

Ob als „Arbeitslosenunterstützung“, „Sozialhilfe“ oder sonst wie bezeichnet, es bleibt doch stets Fakt: Ein gewisses Minimum, ein gutes Quäntchen Geld braucht ein jeder Mensch, um in unseren Gesellschaften würdig und gleichberechtigt existieren zu können.
Daniel im Film verzweifelt genau daran, dass das Amt sich nicht auf ein Etikett einigen kann, unter dem es ihm eine monetäre Unterstützung gewährt. Was für einen Unterschied macht das eigentlich?
Für ein gutes Leben braucht es eine gewisse Summe, die jedem zusteht, auf dass er seine Würde und seine Freiheit behalten darf – unter welcher Aufschrift man diese Summe verbucht, ist nebensächlich.
Wie wäre es wunderbar, wenn diese Summe nicht unter Vorbehalt stünde, wenn sie einem nicht genommen und wegsanktioniert werden könnte!
Dieses Sanktionsregime zurück- und abbauen, das sollten wir dringend.
Eine gänzlich andere Welt wäre das, eine bessere, schönere, eine freiere, wo niemand Bittsteller und Almosenempfänger und fremdbestimmt sein muss.
Selbstbestimmte, freie, gut versorgte Menschen: Davon sollten wir träumen, sprechen, dahin sollten wir kommen.
Werden wir das?

In einer Filmkritik**** heißt es:
„50 Jahre ist es her, dass Ken Loach (der Regisseur, Anm.) mit »CATHY, COME HOME« eine ähnliche Geschichte über einen Menschen im Räderwerk der Bürokratie erzählte. Die bewirkte nach ihrer Fernsehausstrahlung eine Debatte im Parlament, von so etwas träumt heute nicht einmal mehr Loach…“
Was für ein trauriger Schlusssatz, fast noch trauriger als das Ende im Film.
Traurig, weil leider wahr.
Ganz allgemein wird nicht davon ausgegangen, dass sich die Dinge auch jederzeit zum Besseren ändern könnten. Noch nicht mal darüber geredet wird.
Die Botschaft des Films wird nur vorübergehend gehört, aber sie vermag nichts zu ändern. So aufrüttelnd sie auch ist, andere Kräfte sind schon ungleich stärker.
Das Schreckliche ist schrecklich normal geworden.

Ich kann nur hoffen, dass dieser Film von Vielen gesehen wird.
Und ich hoffe, dieser Text findet viele Leser.
Nur vorlesen möchte ich ihn nicht. Ich fürchte, es würde mir nicht gelingen. Ich fürchte, es würde mir die Stimme versagen und erneut würden mir die Tränen ins Gesicht schießen.
Wahrlich wie ein Schlosshund geheult habe ich beim Anschauen dieses Films, der macht was mit mir.
Nicht, dass der Film in dieser Hinsicht effektheischend oder übertrieben sentimental wäre, im Gegenteil. Er erzählt die Geschichte eigentlich sehr nüchtern.
Auch nicht ist meine Rührung darauf zurückzuführen, dass ich von der Thematik persönlich direkt betroffen wäre. Das ist, gottlob, nicht der Fall oder noch nicht, wenngleich ich natürlich Betroffene kenne.
Es hat mich einfach unendlich gerührt und gefreut, dass sich ein ganzer Film dieses überaus wichtigen Themas angenommen hat.

Es bräuchte, wie gesagt, viel mehr, hunderte solcher Filme.
Was habe ich es auch satt, die immer gleichen Geschichten im immer gleichen Setting erzählt zu bekommen! Immer nur die Probleme und Problemchen der pittoresken Besserverdiener, denen es materiell an nichts fehlt.
Als bestünde die Welt nur aus Architekten, Journalisten, Ärzten und Anwälten, die in ihrem abgehobenen Paralleluniversum mit dem Leben hadern, ungewöhnliche Liebschaften anfangen oder alt werden - so gestaltet sich unsere Filmlandschaft aus.
Ich denke dabei an aktuelle Filme wie „Im Herzen jung“***** (ältere Architektin verliebt sich in jüngeren Arzt) oder an Streifen wie „Amour******“ (wohlsituierte Pianistin wird dement).
Solche Filme gibt es zu tausenden.
Gewiss haben auch diese Filme ihren Charme, jedoch sie bilden Menschen, wie ich sie kenne, nicht ab. Menschen, wie ich sie kenne, spielen hier höchstens eine kurze Nebenrolle, etwa in Form einer Pflegekraft, welche es nicht versteht, den besonderen Bedürfnisse der kultivierten Musikerin zu entsprechen – so etwa im Film „Amour“.
An dieser Stelle habe ich mich gefragt, wie wohl der Lebensabend dieser einfachen Pflegerin aussehen mag, die im Film gleich wieder weggeschickt wird? Besondere Bedürfnisse wird es für sie vermutlich nicht geben, gibt es für Menschen wie ich sie kenne nie.
Der Film indes hat auf andere Fragen fokussiert.
Schon war „Amour“ auf seine Art ergreifend: Wie der Ehemann (emeritierter Musikprofessor) die Pflege selbst übernimmt, bis zum bitteren Ende, da er sich entschließt, seine Frau zu erlösen und diese mit einem Kissen erstickt.
Bewegend, sicher, aber geweint habe ich nicht.

Bei „Ich, Daniel Blake“ habe ich hingegen sehr geweint.
Geweint über all das Schreckliche, das unser aller Dasein in jeder Hinsicht durchzieht.
Mag sein, dass das als übertrieben und mimosenhaft gilt; aber vielleicht ist es grad andersrum und eine Gesellschaft, die nicht über das täglich begangene, himmelschreiende, omnipräsente Unrecht weinen kann, empfindet schon lang nicht mehr gesund und ist erst recht zum Weinen.

Der Film „Ich, Daniel Blake“ ist bis 24. 08. 2023 verfügbar auf:
https://www.3sat.de/film/spielfilm/ich-daniel-blake-100.html

* https://de.wikipedia.org/wiki/Ich,_Daniel_Blake

** https://www.n-tv.de/ticker/Italien-streicht-Hunderttausenden-Buergern-Sozialhilfe-article24297545.html

*** https://aktuelle-sozialpolitik.de/2019/10/05/australien-und-bargeldlose-verhaltenssteuerung/

**** https://www.epd-film.de/filmkritiken/ich-daniel-blake

***** https://de.wikipedia.org/wiki/Im_Herzen_jung

****** https://de.wikipedia.org/wiki/Liebe_(2012)

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