Die seltsame Einmütigkeit der Ukrainer

Kampfmoral und Kriegsgeist Was Ukrainer wirklich denken, wollen und was wohl das Beste für sie wäre, bleibt unklar

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Vieles von dem, was man uns tagtäglich über diesen Krieg erzählt, kommt mir seltsam vor.
Sehr unglaubwürdig ist für mich etwa die vielbeschworene Einmütigkeit der Ukrainer.
36 Millionen Einwohner zählt das Land und vermutlich jeder Einzelne hat eine eigene Sicht auf die Dinge, aber erzählen will man uns, die würden sich alle von sich aus und freiwillig mit Feuereifer in die Schlacht werfen, um frei zu sein für die NATO, denn DAS würde Freiheit bedeuten.
Als würden alle Ukrainer solcherart einmütig denken, reden, kämpfen, unabänderlich.
Wer anderes behauptet - so sagt man - spräche anmaßend über die Köpfe der Ukrainer hinweg.
Man sagt:
Wer Verhandlungslösungen fordert, spricht den Ukrainern ihr Recht auf Gegenwehr und Freiheit ab!
Allerdings NICHT sagt man umgekehrt:
Wer von den Ukrainern immerfort Gegenwehr und Blutzoll fordert, spricht ihnen das Recht auf Verhandlungslösungen ab.
Was Ukrainer wirklich denken, wollen und was wohl das Beste für sie wäre, bleibt indes unklar.

Ich meine, selbst bei denen, die sich vielleicht anfangs noch für Was-auch-immer in die Schlacht werfen wollten, dürfte sich im Lauf der Zeit doch auch irgendwann eine Kriegsmüdigkeit einstellen.
Nicht zu vergessen auch, dass für ukrainische Männer im wehrfähigen Alter Ausreiseverbote gelten und Zwangsrekrutierungen an der Tagesordnung stehen; das relativiert die Annahme, alle Mann würden freiwillig und beherzt zur Waffe greifen, dann doch erheblich.
Wer weiß schon, ob sich nicht viele Ukrainer dann doch eher als entmündigtes Kanonenfutter sehen, das für geostrategische Interessen verheizt werden soll? Ob sie selbst nicht doch eher grundsätzlich andere Interessen haben?
Ob sie die Freiheit für die NATO tatsächlich so derart hoch einschätzen wie die Fürsprecher dieser militärischen Organisation es gern behaupten?
Man kann derlei Überlegungen nur als Frage anstellen, denn zu Wort kommen ja doch nur Ukrainer, die der NATO nach dem Mund reden. Ich fürchte, andere werden auch gar nicht erst gefragt.

Und schließlich, frei zu sein für die NATO: Was heißt das überhaupt?
Ist das wirklich die ultimative, wesentlichste Freiheit, für die es sich zu sterben lohnt?
Erzählen will man uns: Ja.
Hingegen ich wage es zu bezweifeln, dass die Unterschrift auf einem solchen Stück Papier, welches eine NATO-Mitgliedschaft bescheinigt, die Lebensrealität für die meisten Ukrainer je wesentlich verbessern würde.
Im Gegenteil, als neutrale Pufferzone zwischen Ost und West wäre das Land wohl besser aufgestellt denn als direkter Nachbar einer gegnerischen Großmacht.
Langfristig gefährlich auch für die gesamte Welt, wenn sich Mächte, die sich gegenseitig als feindlich begreifen, Aug in Aug grimmig anfunkeln jeden Tag und unbedachte Regungen jederzeit einen Weltkrieg auslösen können. Ständige Unsicherheiten und nimmer enden wollendes Konflikt- und Gefahrenpotential brächte ein NATO-Beitritt der Ukraine mit sich, weswegen eben jene Annäherung von jeher kritisch diskutiert worden war.
Nur indem man Ursache und Wirkung scharf verwechselt, kann man davon sprechen, ein NATO-Beitritt brächte der Ukraine hinkünftig Frieden und Sicherheit.
Realiter hat die jahrelange, sukzessive NATO-Zuwendung nun vor allem den Krieg gebracht.
Für nahezu alle wäre es besser, die Ukraine würde auf einen NATO-Beitritt verzichten und die diesbezügliche Freiheit nicht künstlich hochschätzen und höher werten als andere Ideale.
An einer Freiheit festzuhalten, die anderen Schaden bringt, weil sie etwa Sicherheitsinteressen des Nachbarn tangiert, geht ja gar nicht, haben wir doch gelernt.
Der Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft wäre denn auch gar kein so großer Verzicht, aber eine große, friedensstiftende Geste.
Auf einen militärischen Beitritt zu verzichten bedeutet zudem ja nicht, auf wirtschaftliche, kulturelle oder wertebasierte Ausrichtung gen Westen zu verzichten.
Hätte man es zugelassen, es hätte die Ukraine als neutraler Vermittlerposten gar noch aus beiden Richtungen die guten Impulse, Vorzüge und Bereicherungen mitnehmen und die Bevölkerung hätte wahrhaft profitieren können.

Jetzt stecken sie fest, eingekeilt zwischen den Großmächten und werden langsam zu blutigem Staub zerrieben in einem sinnlosen Krieg, der leicht zu vermeiden gewesen wäre.
Ich wage zu behaupten, dass gar nicht wenige Ukrainer diese Sicht teilen möchten, wenn man sie nur ehrlich befragte.
Vor allem jene, die an vorderster Front zerrieben, zerquetscht, zerschossen werden – und schlimmeres.
Aber selbst noch dem sterbenden und zerschundenen Soldaten legt man Worte in den Mund, wie sie auch von der NATO-Pressestelle kommen könnten.

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