Tod eines Dissidenten

Nawalny, Assange und andere Doppelstandards, Doppelmoral und gelenkte öffentliche Meinung

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Irgendwann in der zweiten Februarhälfte des Jahres 2024 ist Alexej Nawalny, dieser berühmte Kreml-Kritiker, in einem russischen Gefängnis (die Zeitungen schreiben gern: „Straflager“) verstorben.
Die Todesursache ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht eindeutig geklärt.

Die Folge war allerdings, dass sich ab da die Berichterstattung noch mehr als sonst überschlug, um dem Märchen vom „Kampf der Guten gegen das absolut Bitterböse“ neues Futter zu geben.
Erschienen unter dem Titel:
„‘Superman‘: Nawalny-Andenken als Akt des Protests“
veröffentlichte der ORF am 18. 02. 2024 einen besonders zeittypischen Artikel.
Später änderte man in der Überschrift das Wörtchen „Superman“ auf „SUPERHELD“, dann allerdings in Großbuchstaben.

In dieser Tonart liest sich jedenfalls der gesamte Text: Ein Heldenepos. Ehre dem Helden. Hier der Bösewicht.
Das Böse, Russland, der Russe und im Zweifelsfall immer dieser Putin, hätte einmal mehr gezeigt, wie schlecht und verkommen er und seinesgleichen nicht sind – so die gedankliche Stoßrichtung.
Der österreichische Präsident wird im Artikel wie folgt zitiert: „Selbst Bundespräsident Alexander Van der Bellen sprach von ‚Putin und seinem mörderischen Regime‘“.
Weiters wird erwähnt, was ein russischer Autor im „Spiegel“ über Nawalny schreiben dufte, nämlich:
„…dass der Kreml-Kritiker immer ein perfektes Vorbild für uns sein wird.
Ein Superheld für die kommenden Generationen.
Ein Mann, mit dessen Geschichte Kinder aufwachsen werden. Zu ihm, nicht zu Putin, sollen sie aufschauen.
In der russischen Geschichte hat es so wenige makellose Helden gegeben. Jetzt gibt es einen.“
Anschließend verweist man auf eine US-Historikerin und Autorin, die das ähnlich sähe.
Diese Frau sieht auf der einen Seite „Lügen und Gewalt eines Autokraten“ und auf der anderen sieht sie Nawalny als lebenden Beweis für „Mut und Wahrheit“.

An dieser Stelle fällt einmal mehr auf:
Personen, welche eine solch zeitgefällige Erzählung vertreten, werden gern mit wohlklingenden Beifügungen vorgestellt. Zum Beispiel „renommiert“, „mehrfach ausgezeichnet“ oder „Expertin“, wie hier im Text. („…Ähnlich sieht es die renommierte US-Historikerin und Autorin Anne Applebaum… mehrfach wegen ihrer Osteuropa-Expertise ausgezeichnet…)
Demgegenüber bekommen Personen, die die zeitgefällige Erzählung hinterfragen oder anzweifeln, nun meist brandmarkende Adjektive wie „umstritten“ vorangestellt - ganz egal, wie viele Auszeichnungen, Expertisen und Renommee sie auch mitbringen.
Beispiele gibt es haufenweise: Michael Lüders, Gabriele Krone-Schmalz, Patrik Baab, Ulrike Guérot, Alice Schwarzer u.v.m. Sie alle gelten nunmehr als „umstritten“, weil sie nachfragen und kritisch sind, der zeitgefälligen Erzählung widersprechen.
Es gelten Doppelstandards, mit denen man die öffentliche Meinung in eine gewünschte Richtung lenken kann.

So ist auch der ORF-Artikel in seiner Gesamtheit von einer objektiven Berichterstattung mindestens so weit entfernt wie das russische Gefängnis, in dem Nawalny zu Tode kam, von diesem englischen Kerker entfernt ist, in dem der westliche Dissident und Aufdecker Julian Assange (man kennt ihn vielleicht) gefangen gehalten wird.
Dieser Artikel ist ein einziger Lobgesang auf den Feind unseres Feindes, der unser besonderer Freund sein muss.
Kriegerische Logik.

Doppelstandards und Doppelmoral werden zunehmend offenkundig.
Die gut dokumentierten rassistischen, nationalistischen, rechtsextremen Aussagen, Einstellungen und Verbindungen eines Alexej Nawalny werden einfach unter den Tisch gekehrt und kaum je erwähnt, weil Nawalny trotz allem doch immer gegen den russischen Präsidenten, gegen Putin war und an den „richtigen“ Stellen von „Freiheit“ undsoweiter brabbelte.
Eben Feind unseres Feindes.
„Makelloser Superheld“ und „perfektes Vorbild“, wie man in Artikeln des öffentlich-rechtlichen Rundfunks lesen darf.
Am Ende kontrastiert das zwar stark mit Nawalnys volksverhetzenden Sprüchen, etwa mit jenen, als er Kaukasier mit KAKERLAKEN verglich und erklärte, „diese Terroristen seien nicht mit einer Fliegenklatsche oder einem Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen“ – aber so genau nimmt man es offensichtlich nicht mit den unseren „makellosen, perfekten Superhelden“.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Anatoljewitsch_Nawalny#Nationalistische_Positionen)

Auf der anderen Seite: Assange, der wie kein anderer für zeitgenössische Pressefreiheit steht und nichts anderes getan hat als skandalöse Verbrechen der US-Armee aufzudecken, wurde systematisch mit Anschuldigungen überhäuft, die man schlichtweg erfunden und konstruiert hat.
Assange siecht nun schon seit beinah 12 Jahren (!) in Unfreiheit dahin – nur, weil er unbequeme Wahrheiten veröffentlicht hat.
Auch hier könnte man locker von Mord sprechen.
Von einem voreilig schnellen Rufmord am Anfang des Schauprozesses gegen Assange, gefolgt von einem grausamen physischen Mord auf Raten in Zeitlupe, dem man aktuell immer noch zuschauen kann. Vorsätzlich zerstört man diesen Menschen in jeglicher Hinsicht.
Die meisten schauen zu, ohne von Mord oder wenigstens von einem Unrecht zu sprechen, immerhin ist er ja der erklärte Feind unserer Freunde oder so.
Ist man einmal dieser Kriegslogik verfallen, findet man nur schwer wieder raus.

Eigentlich sollte man meinen, den westlichen Journalisten sollte die westliche Pressefreiheit erheblich mehr bedeuten als jede andere – und dennoch springen sie unentwegt meist nur für geographisch fernere Freiheiten in die Bresche und tun so, als gäbe es für sie selbst unmittelbar so gar keine Probleme.
Als wäre der Fall Assange nicht der gefährlichste Präzedenzfall überhaupt, der ihre eigene Arbeit schwerstens beeinflusst.
Als wäre die Pressefreiheit in Russland, China, Nordkorea… das größte Problem westlicher Journalisten – und nicht etwa die brüchig gewordene Presse- und Meinungsfreiheit in diesem Westen, der aufgedeckte Wahrheiten über sich selbst mit Lügen, Verfolgung und Repression beantwortet. Dies wird am Fall Assange vorexerziert, wo man einen bestraft, um hunderte zu erziehen.
Als wäre es für die Welt nicht das größte Problem, dass gerade die globale Führungsmacht N°1 auf diese Weise Kritik und Selbstreflexion prinzipiell verweigert.
Alles das bedeutet der Fall Assange.

Für den Aufdecker-Journalisten Julian Assange wird es derzeit übrigens auch eng.
Es bleibt ihm vielleicht noch ein letztes Rechtsmittel, die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ehe ihm dann doch noch die finale Auslieferung an die USA droht, wo ihn lebenslange Haft (175 Jahre) oder Todesstrafe erwarten.
Kann ja Zufall sein, faktisch ist es nun aber so, dass das Ableben von Nawalny den Fall Assange einmal mehr überstrahlt, und das just in jener Minute, da es bei Assange um alles oder nichts geht.

So nebenbei ist auch bereits im Jänner 2024 in einem ukrainischen Gefängnis ein nicht zeitgefälliger, weil NATO- und kriegskritischer US-Amerikaner (der Journalist und Autor Gonzalo Lira) ums Leben gekommen, was hierzulande natürlich keine große Meldung wert war.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Gonzalo_Lira)
Noch so ein Dissident, der irgendwelchen Mächtigen im Weg war, hier eben leider wieder der „falschen“ Seite. Kriegslogik.
Kaum findet man Nachrichten mit Reichweite zu diesem Fall.
Ist heute wirklich schon überall, diese Doppelmoral.

Nur Nawalny und sein Tod evozieren im Westen Bestürzung, Empörung und Aufruhr ohne Ende.
Es scheint, fast schon freuen sie sich, wenn sie heute einen neuen Anlass sehen, den russischen Präsidenten als „Diktator“, „Autokraten“ und „mörderisches Regime“ zu beschimpfen.
Sie, die Meinungsmacher.
Das passt ihnen gut.
Der Schuldige im Todesfall Nawalny stand für die westlichen Standesvertreter schon felsenfest, als die Totenstarre des Beweinten noch gar nicht eingesetzt hatte.
Allzu gern sprechen sie diesbezüglich bis heute und bestimmt noch lange von „Mord“ und von „Putin, dem Mörder“.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ORF-Artikels bis heute, 11. 03. 2024, bleibt die Faktenlage in dieser Sache allerdings dünn.
Selbst der ukrainische Militärnachrichtendienst sieht es mittlerweile als „mehr oder weniger bestätigt“ an, Nawalny sei an einem Blutgerinnsel gestorben, was zunächst nicht unbedingt auf einen gewaltsamen Tod hindeutet. (https://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Anatoljewitsch_Nawalny#Tod)
Mehr weiß man noch nicht, wenngleich viele Beiträge, so auch der hier besprochene ORF-Artikel, gern etwas anderes insinuieren.

So stammt auch in diesem Artikel der einzig halbwegs neutrale Satz ausgerechnet vom Kreml-Sprecher, der damals meinte:
„Obwohl die gerichtsmedizinischen Ergebnisse noch nicht vorlägen, habe der Westen bereits seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen.“
Bis heute hat zumindest dieser Satz seine Gültigkeit behalten.

Link zum ORF-Artikel:
„SUPERHELD“
„Nawalny-Andenken als Akt des Protests“

https://orf.at/stories/3349016/

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