Bringdienst für die Alte

Wundersamer Alltag Die Gesellschaft lässt sich die Unterstützung von körperlich Benachteiligten neuerdings einiges kosten. Aber ist es ein Zeichen der Solidarität, Bürgersteige abzusenken?

Die deutschen Städte werden behindertengerecht umgebaut. Überall, wohin man schaut, werden die Bordsteine abgesenkt, damit Rollstuhlfahrer und Gehhilfennutzer besser hinauf und hinunter kommen, und Noppen- oder Rillenplatten als so genannte Blindenleitsysteme ins Pflaster eingelassen, auf das sehbehinderte Menschen sich besser zurecht finden.

Die Gesellschaft lässt sich die Unterstützung der körperlich Benachteiligten etwas kosten. Wie es scheint, zeigt die Stadt sich solidarisch und sorgt dafür, dass sich auch Menschen mit Behinderungen relativ frei bewegen können.

Erstaunlich ist dabei, dass sich Bautätigkeiten dieser Art in den letzten Jahren verstärkt haben. Hat die Zahl der blinden Mitbürger in Deutschland zugenommen, gibt es mehr Rollstuhlfahrer als in den Jahren zuvor? Die naheliegende Antwort scheint zu sein, dass der Staat sich auf den demografischen Wandel einstellt: Immer mehr alte Menschen, das heißt auch, immer mehr seh- und gehschwache Menschen. Aber das ist keineswegs ausgemacht: durch den Rückgang der Anzahl von körperlich belastenden Arbeitsplätzen, haben wir bekanntlich immer mehr fitte Senioren, hinzu kommen die Erfolge der Gesundheitsindustrie und die Tatsache, dass immer mehr Menschen darauf achten, dass sie gesund und beweglich ins Alter kommen. Wir rauchen weniger, ernähren uns gesünder und treiben in Maßen Sport.

Heile Noppen-Welt?

Sind wir also einfach solidarischer geworden? Mir scheint, das Gegenteil ist der Fall: Warum auch immer im Einzelfall Bordsteine abgesenkt oder Haltestellen blindengerecht markiert werden, all diese Veränderungen sind Zeichen der Ent-Solidarisierung in der Gesellschaft. Wir kaufen uns von der direkten, praktischen Hilfe frei, indem wir Baumaßnahmen von unseren Steuern finanzieren lassen.

Wo keine Noppenplatten den Buseinstieg markieren, da muss ein Mensch im Bedarfsfall den blinden Mitbürger am Arm nehmen. Wo kein Bordstein abgesenkt ist, da muss jemand am Rollstuhl oder am Kinderwagen mit anpacken. Aber wo uns Kerben im Bürgersteig darauf hinweisen, dass wir unsere Hilfe per Steuerzahlung längst geleistet haben, da können wir unbeteiligt beiseite sehen, wenn der weiße Stock tastend nach dem richtigen Weg sucht. Das ist dann längst nicht mehr unser Problem. Wir sind sehr damit einverstanden, dass die Stadtverwaltung solche Baumaßnahmen vornimmt, auch wenn sie Geld kosten, das geben wir gerne. So werden wir im Alltag weniger gestört und weniger von unserer eigenen Unsicherheit verstört, wenn wir nicht wissen, von welcher Seite wir den Rollstuhl anfassen oder in welcher Lautstärke wir den sehbehinderten Menschen ansprechen sollen. Wir können unsere Welt sauber von diesen Schwierigkeiten frei halten, Noppenplatten und abgesenkte Bordsteine sind in Wahrheit die Grenzsteine, die unsere heile Welt von der der Behinderten trennen.

Das ist keine neue Entwicklung unserer Tage. Michel Foucault hat in Wahnsinn und Gesellschaft den Beginn dieser Ausgrenzung am Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert ausgemacht, sie ist verbunden mit dem Siegeszug von Wissenschaft und Technik. Allenfalls neu für unsere heutige Situation ist, dass die Grenze inzwischen in der letzten Ecke des Alltags angekommen ist. Wir nehmen unsere Verantwortung für den Anderen wahr, indem wir für jedes Problem, das menschliche Zuwendung erfordert, eine technische Lösung finden. Ziel ist es, dass wir einander nicht mehr brauchen, der Blinde hat seine Noppenplatte, die Rollstuhlfahrerin hat ihren abgesenkten Bordstein, die Alte hat ihren Bringedienst, der Einsame hat seinen Fernseher. Und mit dieser Vereinzelung verschwindet auch das soziale Gewebe, durch das die Menschen merken würden, dass sie ihre Welt gemeinsam verändern könnten.

Jörg Friedrich wird künftig immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nachgehen. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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