Ernährung, Zweifel und Suche nach Erlösung

Lebensmittel Seit November ist der Nutri-Score in Deutschland offiziell anerkannt, aber die Kritik an dem System lässt nicht nach

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Tatsächlich konnte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner die Einführung des Lebensmitteletiketts als großen Erfolg verbuchen, aber der Schein trügt. Die Methode des Nutri-Score, Lebensmittel zu bewerten, ist umstritten
Tatsächlich konnte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner die Einführung des Lebensmitteletiketts als großen Erfolg verbuchen, aber der Schein trügt. Die Methode des Nutri-Score, Lebensmittel zu bewerten, ist umstritten

Foto: Clemens Bilan/Pool/Getty Images

Inzwischen dürfte jedem klar geworden sein, wie sehr die andauernde Coronavirus-Pandemie diverse Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft verschärft und gleichzeitig bisher weitgehend ignorierte Missstände deutlicher Macht. Ein besonderer Stein des Anstoßes wurde kürzlich nochmals von Foodwatch beleuchtet, nämlich die Tatsache, dass Lebensmittel mit schlechterer Nährwertqualität sehr viel preisgünstiger sind als solche, die aktiv zu einer ausgewogenen Ernährung beitragen.

Wirtschaftliche Schieflagen verschärfen dieses Dilemma, vor allem für ärmere Familien, auch wenn schlechte Ernährung eine Tatsache quer durch alle Bevölkerungsschichten ist – ein Problem, das die Politik schon zwar schon seit Jahren erkannt, aber viel zu lange bloß schleppend angegangen ist. Dementsprechend steht es schlecht um die körperliche Gesundheit in Deutschland. Dem Robert Koch Institut (RKI) zufolge sind zwei Drittel der Männer (67 Prozent) und die Hälfte der Frauen (53 Prozent) hierzulande übergewichtig.

Trotzdem legt der Deutsche Wert auf seine Ernährung und ist obendrein noch sehr umweltbewusst: „Immer mehr Menschen achten auf ihre Ernährung und entscheiden sich bewusst für den Kauf von Bioprodukten“, kommentiert Dr. Christian Wulff, Leiter des Bereichs Handel und Konsumgüter bei PwC Deutschland die Ergebnisse einer Studie aus seinem Hause, die im Januar veröffentlicht wurde. Demnach gaben 24 Prozent der Befragten an, mehr Biolebensmittel als konventionelle Produkte zu konsumieren – ein Plus von 10 Prozent im Vergleich zu 2017.

Klöckners vermeintlicher Triumph

Die vermeintliche Lösung für das Dilemma zwischen guter, idealerweise günstiger, Ernährung und Umweltverträglichkeit fand die Bundesregierung schließlich im Nutri-Score, einer bereits in anderen Ländern eingeführte Lebensmittelampel, die als Etikett auf Nahrungsmittelverpackungen den Verbraucher über den Nährwert eines Produkts aufklären soll. Seit November vergangenen Jahres ist der Nutri-Score auch in Deutschland offiziell anerkannt, wenn auch auf freiwilliger Basis.

Tatsächlich konnte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner die Einführung des Lebensmitteletiketts als großen Erfolg verbuchen, aber der Schein trügt. Die Methode des Nutri-Score, Lebensmittel zu bewerten, ist umstritten, wobei vor allem der Nutzen der Farbskala von dunkelgrün bis rot und von A (gut) bis E (schlecht) als zu vereinfachend und teilweise unwissenschaftlich in Frage gestellt wird.

Auf deutscher Polit-Ebene mag zwar pro-Nutri-Score-Konsens herrschen, dennoch ist die Sache für die Lebensmittelindustrie alles andere als gegessen. Verschiedene Industrie- und Fachverbände haben sich seit mindestens 2019 entweder entschieden gegen den Nutri-Score oder zumindest gegen ihn in seiner derzeitigen Form ausgesprochen.

Widerstand von Lebensmittelverbänden

So hatte der Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN) kurz vor der Bundestrat-Abstimmung über die Nutri-Score-Einführung nochmals darauf hingewiesen, dass der Nutri-Score „in seiner aktuellen Form“ zu viele Mängel aufweise, um das von Klöckner angegebene Ziel, Verbraucher „umfassend und transparent über Zutaten und Nährwerte von Lebensmitteln“ zu informieren und dadurch eine gesunde Ernährung zu erreichen. So würden „hochwertige Inhaltsstoffe wie mehrfach ungesättigte Fettsäuren, hoher Ballaststoffgehalt und sekundäre Pflanzenstoffe“ in der Bewertung nicht ausreichend berücksichtigt – ein fatales Problem für den Öko-Nahrungsmittelmarkt.

Die Problematik der Auslassung von hochwertigen Nährstoffen wurde denn auch vom Bundesverband der deutschen Fischindustrie und des Fischgroßhandels hervorgehoben. In einem Brief an das Bundesministerium für Ernährung schilderte Verbands-Geschäftsführer Dr. Matthias Keller die Situation: Beliebte Fischerzeugnisse wie Räucherlachs würden „ihre ernährungsphysiologischen Vorteile durch das Nutri-Score Modell leider nicht nutzen [können], da Omega-3-Fettsäuren grundsätzlich nicht in die Bewertung einfließen […].“

In eine ähnliche Kerbe schlug der deutsche Lebensmittelverband mit seiner Forderung nach einer Anpassung der im Nutri-Score genutzten Parameter. Im Dezember 2019 schlug der Verband eine Änderung der Berechnungsgrundlage des Systems vor, welche die tatsächlichen Ernährungsgewohnheiten der Verbraucher akkurat widerspiegele. Nicht nur müssten „Widersprüche zu allgemeinen Ernährungsempfehlungen“ gelöst, sondern auch für Verbraucher nachvollziehbare Bewertungsgrundlagen klar dargestellt werden.

Die Kommission bittet um Feedback

Auch auf EU-Ebene ist das System – aus denselben Gründen – seit jeher heftig umstritten. Vor allem Widerstand aus Italien, Griechenland, der Tschechischen Republik und anderen Ländern hat dazu geführt, dass das Modell nicht als pan-europäisches Etikettensystem akzeptiert wird. Angesichts der mit Herz und Emotion geführten Debatte hat die Europäische Kommission am 23. Dezember eine sechswöchige Konsultation gestartet, um interessierten Parteien eine Plattform zur Meinungsäußerung und konstruktiver Kritik bezüglich der Lebensmittelkennzeichung zu geben.

Die Plattform steht bis zum 3. Februar zur Verfügung und ermöglicht Feedback zu Nutri-Score, dem konkurrierenden Nutrinform-Batterie-System sowie weiteren Alternativen. Demnach besteht Hoffnung, dass letztendlich ein für alle akzeptables Etiketten-System gefunden wird. Mit genügend Feedback aus Industrie und der breiten Masse der Verbraucher kann ein Label entwickelt werden, welches zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: hochqualitative, wahrlich nahrhafte Lebensmittel mit guter Öko-Bilanz.

Auch wenn Bundesministerin Klöckner es so sehen mag: Mit Blick auf die gesetzten Ernährungsziele, besonders in Zeiten von Covid-19, ist das letzte Wort in diesem Streit ist noch lange nicht gesprochen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden