Prolix regiert

Bidens Warnung Der US-Präsident verkündet, dass ein Armageddon drohe, das Weltende also, weil Putins Drohung mit Nuklearwaffen ernst zu nehmen sei. Besteht Politik inzwischen in Wahrsagerei?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Prolix hat in den Asterix-Geschichten die Rolle des Wahrsagers. Regierungsgeschäfte haben ihm die Comic-Autoren nicht übertragen. Beide Rollen sollten getrennt sein. Das Magazin Stern berichtet: „Angesichts der russischen Drohungen von einem möglichen Atomwaffeneinsatz im Ukraine-Krieg hat US-Präsident Joe Biden vor der Gefahr einer nuklearen ‚Apokalypse‘ gewarnt.i Alle Medien lassen uns das wissen. Sehen wir einmal davon ab, ob die Aussagen des russischen Präsidenten richtig interpretiert werden. Wie kann der Präsident der militärischen Supermacht sich auf eine solche Vorhersage beschränken, als ob die Apokalypse ein unabwendbares Schicksal wäre, anstatt das Gespräch mit der feindlichen Macht zu suchen? Bemerkend, dass die Bürger*innen das seltsam finden könnten, meint man ebenfalls im Magazin Stern: „Biden beschwört das ‚Armageddon‘ und baut darauf, dass Russland die Botschaft versteht.“ii Das heißt, er reagiert mit einer Drohung auf eine Drohung. Ist das noch eine von Vernunft beherrschte Politik? Der Begriff „Politik“ erscheint hier schon kaum noch angemessen, sofern Politik Einflussnahme und Gestaltung meint.iii Joachim Weber, Sicherheitsexperte von der Uni Bonn, hält Vernunft auf beiden Seiten für das Gebot der Stunde, gerade weil auch er die Lage als äußerst brisant einschätzt.iv

Wenn man den Feind zum Outlaw erklärt, also für einen, der sich nicht an Gesetze hält und daher geächtet werden muss, dann kann man mit ihm auch keine Gespräche mehr führen. Eine solche Konstellation ist offenbar in der Beziehung mit dem russischen Präsidenten eingetreten, oder besser: eine solche Konstellation hat man herbeigeführt. Ich frage mich, mit welchem Recht? Der Rückblick auf die Kriege der letzten Jahrzehnte rechtfertigt in keiner Weise die Ächtung Putins seitens der „westlichen Wertegemeinschaft“, die sich selbst mehrerer Völkerrechtsbrüche schuldig gemacht hat.

Ich gewinne generell den Eindruck, man will seitens der NATO die Konfrontation und verbirgt das hinter Prophezeiungen oder Prognosen. So lese ich, dass die Leiterin einer Forschungsgruppe der Stiftung Wissenschaft und Politik, Claudia Major, in einem Vortrag prognostiziert hat: „Wir werden in Zukunft nicht mehr eine integrativ-korporative Ordnung gemeinsam mit Russland haben, sondern wir werden Sicherheit zu weiten Teilen in Abgrenzung von oder sogar gegen Russland aufbauen müssen. Also keine Friedensordnung mehr, sondern eine konfrontative Ordnung, eine Konfliktordnung.“v – „Konfliktordnung“, eine scheinbar originelle, aber unsinnige Wortschöpfung. Die Konfrontation erscheint auch in diesen Ausführungen als unabwendbares Schicksal. Damit soll vermutlich jeder Widerstand gegen die Konfrontationspolitik im Keim erstickt werden. Wer die Einsicht gewonnen hat, dass etwas so oder so auf ihn zukommt, der wird sich nicht mehr auflehnen. – Defätismus in der Bevölkerung als politisches Programm. Tatsächlich ist anscheinend eine Art Schockstarre in dieser Republik eingetreten.

i https://www.stern.de/politik/ausland/joe-biden—ukraine-krieg-so-nah-an—armageddon--wie-seit-kuba-krise-nicht-mehr-32792946.html, abgerufen am 07.10.22

ii https://www.stern.de/politik/ausland/joe-biden-baut-darauf—dass-moskau-die--armageddon--mahnungen-versteht-32792900.html, abgerufen am 07.10.22

v Zit. nach Sevim Dagdelen, in: junge Welt v. 06.10.22, S.12

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Georg Auernheimer

Früher Erziehungswissenschaftler (Schwerpkt. interkulturelle Bildung), heute politische Publizistik

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden