Staatsräson - falsch verstandene Verantwortung für Israel

Nahostkonflikt, Gazakrieg Das Schlagwort „Staatsräson“ – ein Schlagwort, mit dem jedes Nachdenken niedergeschlagen wird – verdeckt die völlig irregeleitete Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die israelische Journalistin Amira Hass hat dieser Tage in der Zeitung Haaretz einen fiktiven Appell an Bundeskanzler Scholz publiziert. Dort sagt sie uns:„Ihr Deutschen habt Eure Verantwortung, die sich ‚aus dem Holocaust‘ ergibt […] längst verraten. Ihr habt sie verraten durch eine vorbehaltlose Unterstützung eines Israels, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser entzieht, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in Gaza in einem überfüllten Käfig einsperrt, Häuser zerstört, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt fördert.“ Mit der „vorbehaltlosen“ Unterstützung wurde das verfehlt, was gefordert gewesen wäre, nämlich zumindest in stiller Diplomatie immer wieder auf die Einhaltung der UNO-Resolutionen zu pochen. Vor allem hätte man nach dem Oslo-Abkommen die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung anmahnen müssen. Die ist inzwischen unrealistisch geworden. Das ständige Stillhalten bundesdeutscher Regierungen hat der Sicherheit Israels nicht gedient, wie sich spätestens jetzt zeigt. Was als Solidarität beschworen wird, ist zur Komplizenschaft geworden. Verantwortung im Sinn von Amira Hass hätte vorausgesetzt, dass man die Vertreibung der Palästinenser nicht bloß als Kollateralschaden der israelischen Staatsgründung abgetan hätte, sofern man sie überhaupt wahrnehmen wollte. Viele von uns haben sie früher sogar im Denkschema des europäischen Kolonialismus als eine selbstverständliche Folge zivilisatorischer Überlegenheit betrachtet. Außerdem steht dem verantwortungsvollen Umgang das Bedürfnis entgegen, „das Verhältnis zu Israel als exklusive Zweierbeziehung zu sehen, als ein deutsch-jüdisches Wunder der Versöhnung“ (Charlotte Wiedemann 2022). Die Instrumentalisierung des Holocaust, um den Bruch aller UN-Resolutionen und Abkommen zu rechtfertigen, die kritische Israelis ihren Regierungen vorgeworfen haben, wollte man von deutscher Seite nie wahrhaben. Das hätte die Harmonie gestört.

Von Anfang an war das Verhältnis Deutschlands, das mit einem der größten Verbrechen der Geschichte belastet war, zu Israel unehrlich. 1952 setzte Konrad Adenauer gegen Widerstände eine Entschädigungszahlung an Israel durch, die in Waren und Dienstleistungen im Wert von 3,5 Milliarden DM bestand. Mit diesem „Wiedergutmachungsabkommen“ erkaufte sich die Bundesregierung die Entspannung im Verhältnis der beiden Staaten und die internationale Rehabilitation. Von israelischer Seite nahm man in Kauf, dass die westdeutschen Institutionen durchweg mit alten Nazis besetzt waren. Aber Israel brauchte die Unterstützung des Westens, vor allem der USA, und wusste, dass die Bundesrepublik deren unverzichtbarer Frontstaat im Kalten Krieg war. Die DDR-Führung folgte in ihrer Israel-Politik der Moskauer Linie. Die Schuld an den Verbrechen des Deutschen Reichs wälzte sie auf die Kapitalistenklasse ab, so wie man sich im Westen mit Verweis auf die Nazis entlastete. Was in der DDR zählte, war eine antifaschistische Haltung. Im Westen bemühte sich viele Gruppen ernsthaft um eine Aufarbeitung der belastenden Vergangenheit. Aber der herrschende Diskurs blieb davon weitgehend unberührt. Man achte auf die Argumentationsmuster in Verlautbarungen und Feiertagsreden! Von der geläuterten Haltung sollte die vorbehaltlose Unterstützung Israels zeugen. Jede Kritik an der dortigen Politik löste den Antisemitismus-Vorwurf aus. Die Hysterie bei der Verfolgung von Antisemitismus ist verräterisch. Für das Alltagsbewusstsein aufschlussreich ist auch, dass 1992 ein Rostocker Kommunalpolitiker in einer Diskussion mit Ignatz Bubis, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, unterstellte, dessen Heimat sei Israel.

Als 2008 Angela Merkel vor der Knesset beteuerte, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson, übernahm auch Gregor Gysi als Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke das Schlagwort, weil er die Regierungsfähigkeit seiner Partei zeigen wollte. Er stellte aber unter Bezugnahme auf den Juristen und Rechtsphilosophen Hermann Klenner klar, was Staatsräson in historischer Sicht bedeute, nämlich die Selbstbehauptung des Staates mit allen, auch unmoralischen Mitteln. Böswillig könnte man interpretieren, die absolute Solidarität mit dem Staat Israel solle der moralischen Selbstbehauptung der Bundesrepublik im Kreis der Staatengemeinschaft dienen, und das mit allen Mitteln.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Georg Auernheimer

Früher Erziehungswissenschaftler (Schwerpkt. interkulturelle Bildung), heute politische Publizistik

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden