Geschichtsrevision in der Ukraine

Nation Building Zuerst ungläubig, dann kopfschüttelnd lese ich von der großen Umbenennungsaktion in Kiew. Beinahe einhundert Straßen und Plätze wurden zum Zweck einer Geschichtsrevision umbenannt.

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Nicht nur die Namen von Marx und Engels mussten von Straßenschildern verschwinden. In dem verzweifelten Bestreben, alle kulturellen Verbindungen zu Russland zu kappen, wurden auch Straßennamen getilgt, mit denen russische Schriftsteller und Dichter geehrt worden waren. Man hat sich nicht gescheut, selbst die Namen von Alexander Puschkin, Lew Tolstoi und Anton Tschechow gegen die Namen nationalistischer Kultfiguren auszutauschen. Für Bürgermeister Witali Klitschko ein wichtiger Schritt, „um die betrügerische Manipulation und den Einfluss des russischen Aggressors auf die Interpretation unserer Geschichte zu verringern“.i

Man will also allen Ernstes vergessen machen, dass das russische Reich, das in den Kämpfen gegen die mongolischen Chanate, gegen Polen-Litauen und das Osmanische Reich entstanden war, im 19. Jahrhundert zu einem Kulturraum wurde, in dem große Literatur geschaffen wurde, literarische Werke von Weltgeltung. Dass auch Kompositionen von gleichem Rang entstanden, sei noch ergänzt. Dieses kulturelle Erbe will man ausschlagen. Aber die Werke eines Tolstoi, um ein Beispiel zu nehmen, sind nicht nur russisches Erbe, sondern haben universalistischen Gehalt, weil sie Konflikte und Handlungen zum Inhalt haben, in denen sich Menschen gleich welcher Herkunft erkennen können.

Ich frage mich, wann denn die Bücherverbrennung folgt. Und was geschieht mit dem Denkmal und Museum für Bulgakow, dessen Name auch keine Straße mehr zieren soll. Im Internet findet man noch ein Bild des Kiewer Denkmals.ii

Manche mögen sich auch gefragt haben, warum man denn nicht die Namen großer ukrainischer Schriftsteller für die neue Benennung von Straßen und Plätzen gewählt hat. Aber da ist man in Verlegenheit. Wer früher in der Region, in der man Ukrainisch sprach, geboren wurde, hat auf Russisch publiziert. Beispiele sind Nikolai Gogol (1809-1852) und Michail Bulgakow (1891-1940). Zur Zeit von Gogol lag es daran, dass Ukrainisch noch nicht zur Schriftsprache aufgewertet war, später sicher daran, dass man auf Russisch ein größeres Publikum erreichte. Die Ukrainer täten gut daran zu akzeptieren, dass die Ukraine kulturgeschichtlich bisher auf das russische Erbe angewiesen ist. Das wäre ein Zeichen von Souveränität.

Die mangelt den ukrainischen Nationalisten aber völlig. Für die Neubenennung hat man teilweise mittelalterliche Fürsten gewählt. Denn man klammert sich, um eine Tradition für den Prozess des Nation Building zu erfinden, an alte Geschichten, vor allem den Mythos von der Kiewer Rus. Das ist so absurd, wie die Traditionslinie zu den Germanen, die man zeitweise bei uns konstruiert hat. Teilweise werden mit den Straßennamen außerdem die neuen Kriegshelden verewigt, das Asow-Regiment, die Helden von Mariupol oder von Melitopol.

Dass man keine Scheu hat, sich auf faschistische Führer und Organisationen aus den 1940er Jahren zu berufen, wurde schon 2016 mit der Benennung des großen Kiewer Boulevards nach Stepan Bandera klar. Jetzt hat der Stadtrat einen Platz zum „Heldenplatz der UPA“ gemacht, benannt nach dem militärischen Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten. Die UPA war an Judenpogromen beteiligt und wird in Polen des Genozids beschuldigt, weshalb sie dort als „verbrecherische Organisation“ gilt.iii

Die ganze Umbenennungsaktion in Kiew atmet einen Geist, der mit humanistischen Werten unvereinbar ist. Befremdlich, ja erschreckend finde ich daher, wie im ZDF die Aktion verharmlost und schön geredet wird. Eingeleitet wird der Beitrag mit den Sätzen: „Was steckt hinter der Umbenennung, warum ist sie wichtig für die Bildung einer ukrainischen Identität und welche Kritik gibt es?“ Tendenziell soll bei den Zuschauern und Zuschauerinnen Verständnis geweckt werden. So lässt sich auch der Kommentar der PD Dr. Svetlana Suveica deuten, der auf das Zugeständnis folgt, dass es „nicht ganz unumstritten“ sei, einen Platz nach der UPA zu benennen. „Diese historischen Kontroversen werden derzeit zum Teil ignoriert und verdrängt – auch weil sich Nationen in Zeiten des Krieges auf neue und alte Helden berufen - etwa die UPA“.iv Tenor: So ist das nun mal.

Interessant ist übrigens, wie sehr sich die Anstrengungen des ukrainischen Regimes, alles, was russisch ist, aus dem Leben der Ukrainer zu verbannen, mit der versteckten Empfehlung deckt, die der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Dieter Wellershoff 1993 abgab. In einer von ihm herausgegebenen Dokumentation der Ergebnisse des Seminars der Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu geopolitischen Fragen schrieb er: „Ein vorrangiges Problem ist, daß sich die Staatswerdung der Ukraine zwangsläufig aufgrund der historischen Entwicklung in einer striktenAbgrenzung zu Rußland vollziehen muß. Die nationale Emanzipation verlangt die Zerstörung der alten Bindungen zu Rußland und die Beseitigung des in allen gesellschaftlichen Bereichen noch wirksamen russisch-sowjetischen Einflusses. Diese Destruktion müßte Hand in Hand gehen mit einem konstruktiven gesellschaftlichen Aufbau, um die Systemtransformation zu erreichen.“v NATO-Auftrag also erfüllt.

iJunge Welt v. 27./28.08.22, S.1

v Wellershoff, Dieter (Hrsg.): Herausforderungen und Risiken. Deutschlands Sicherheit in der veränderten Welt, Berlin/Bonn/Herford 1993, S.23. Zitiert nach Armin Bernhard: Gefährlicher Umgang des ‚Westens‘ mit dem Ukraine-Krieg – 5 Thesen zur Notwendigkeit einer pragmatischen Gegenaufklärung. In: PoliTeknik, Ausgabe 34, Juli 2022. http://politeknik.de/p13128/

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Geschrieben von

Georg Auernheimer

Früher Erziehungswissenschaftler (Schwerpkt. interkulturelle Bildung), heute politische Publizistik

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