Die Ostdeutschen, scheinbar unbelehrbar

Stereotypisierung Die Ostdeutschen, jedenfalls die älteren, sind weitgehend ein Opfer ihrer DDR-Sozialisation, so der Tenor der ARD-Reportage „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“.

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Die Reporterin Jessy Wellmer, noch zu DDR-Zeiten in Güstrow geboren, heute Sportschau-Moderatorin, ist einige Wochen im Osten der Republik herumgereist und hat ihre Eltern, eine alte Bekannte aus der Nachbarschaft, früher Lehrerin, einen ehemaligen NVA-Offizier, einen SPD-Mann aus der Krisenregion Schwedt mit der von Ölmangel bedrohten Raffinerie und den Gitarristen einer DDR-Band interviewt. Auch mit einer Expertin für die Nachwendezeit in Ostdeutschland und mit Gregor Gysi hat sie gesprochen und Teilnehmerinnen einer Protestdemo befragt. Das Thema: der Angriffskrieg Russlands und die Frage, was man generell mit Russland verbinde.

Am Anfang der Sendung steht das Gespräch mit den Eltern, und das weckt die Erwartung, dass die Reporterin ihre Gesprächspartner nicht an den Pranger stellen oder denunzieren will. Denn wer möchte schon seine Eltern bloßstellen. Sie war vermutlich bemüht, zumindest am Anfang bemüht, die Position ihrer Gesprächspartner zu Russland und zum Ukrainekrieg zu verstehen. Aber ihr Verständnis ist eng begrenzt. Was sie sich als Erklärung für Ansichten, die für sie befremdlich sind, zurecht legt, ist paternalistisch. Die Leute sind zu stark von ihrer Sozialisation in der DDR und der damaligen Propaganda „geprägt“ und gar nicht mehr urteilsfähig, so die Erklärung.

Die Statements zum Angriffskrieg, zu Putin und Russland oder auch zum demokratischen System und zu den Medien sind unterschiedlich ausgefallen. Eine Mitschuld des Westens an dem Krieg sahen fast alle Interviewpartner, auch der sehr vorsichtige, defensiv argumentierende Musiker. Mindestens zwei Befragte, der ehemalige NVA-Offizier und die spontan angesprochene Demo-Teilnehmerin, gaben eindeutig den USA die Schuld. Das war für die Journalistin unfassbar, wie sie dem Publikum gestand. Sie konnte sich das nur mit absoluter Borniertheit erklären. Gysi bestätigte sie darin mit einer eigenen Interpretation und trug noch das Stichwort „Ideologie“ bei: „Wenn du eine grundsätzliche Antihaltung zur NATO und zum Westen hast, dann versuchst du doch, deine Ideologie nicht einzuschränken, du willst doch nicht unrecht gehabt haben. Also suchst du dir immer Erklärungen, was hat der Westen alles Schlimmes und Falsches gemacht, was den Putin dazu gedrängt hat.“

Auf dreierlei Art versuchte man in der Sendung, sich das befremdliche Weltbild dieser Ostdeutschen begreiflich zu machen, also in den Griff zu bekommen. Zunächst durch die frühere Propaganda, die noch unausrottbar in den Köpfen da sein und die Vorstellungen beherrschen müsse. Ausschnitte aus DDR-Veranstaltungen und aus einer Kindersendung wurden kurz eingeblendet. - Die Sowjetunion als Friedensmacht usw. Die Kontakte mit Russen und Russinnen und die oft längeren Russlandaufenthalte, von denen Interviewpartner erzählten, legten eine Erklärung für die Sympathien mit Russland nahe. Die auch von Zeit zu Zeit eingeblendeten Umfrageergebnisse zeigten, dass in Ostdeutschland viel häufiger Verständnis für Russland geäußert wird. Scheinbar großes Verständnis für die Ostdeutschen und ihre abweichenden politischen Meinungen wurde mit dem Hinweis auf ihre kränkenden und demütigenden Erfahrungen nach 1990 geweckt. Unter anderem die Historikerin brachte das ins Spiel. Das Wort „kränkend“ viel mehrmals. Da aber im Dunklen gelassen wurde, was denn für die Menschen kränkend war und noch ist, wurde ungewollt eher das Stereotyp vom wehleidigen Ossi wiederbelebt. Kein Wort über De-industrialisierung, über den Austausch der Eliten, über die nach wie vor bestehende Differenz im Lohnniveau zwischen West und Ost, über nicht abgegoltene Rentenansprüche. Nur auf die Entwertung von Biographien und Lebensleistungen wies der NVA-Offizier vorwurfsvoll hin.

Die Erfahrungen der Ostdeutschen mögen ihr Misstrauen gegenüber der herrschenden Politik und gegenüber den Mainstreammedien verständlich machen. Vorstellbar ist auch noch eine Identifikation mit Russland als einem Staat, der wie sie selbst politisch hinters Licht geführt wurde. Aber muss damit ihre politische Urteilsfähigkeit so stark getrübt sein, dass ihre Meinungen abwegig, schlicht indiskutabel erscheinen? Dieses Bild aber hinterließ die Sendung.

Grotesk wirkte die liebenswürdige Mahnung der Journalistin am Schluss der Sendung: „Ich möchte, dass wir uns zuhören und einander ernst nehmen.“ Man müsse offen sein für verschiedene Meinungen. Sie selbst aber bekundete mehr als einmal nach einem Gespräch, sie habe sich schwer getan, sich das anzuhören. Manche Äußerung fand sie einfach unbegreiflich, „unfassbar“. Das heißt, ihr Urteil war fertig. Die für sie, und vermutlich für den überwiegenden Teil des Publikums, abwegigen Ansichten einiger Gesprächspartner waren für sie Ergebnis jahrzehntelanger Beeinflussung und vielleicht auch bitterer Erfahrungen. Dass ihr eigenes Weltbild das Ergebnis ihrer Sozialisation und auch unaufdringlicher medialer Berieselung sein könnte, wurde nicht einmal angedeutet. Naiv wehrte sie sich im Gespräch mit dem Lokalpolitiker aus Schwedt gegen den möglichen Vorwurf, sie könnte in ihrer journalistischen Arbeit opportunistisch handeln, naiv deshalb, weil Opportunismus das Problem verfehlt.

Der Vater von Jessy Wellmer hatte gemeint: „Es wäre schön, wenn wir in Deutschland mal ins Gespräch kommen könnten, so dass wir uns nicht als Russlandfeinde oder Putinversteher so positionieren müssen.“ Das heißt, ohne uns das Stereotyp des Gegenübers zu bestätigen. Dazu hat die Sendung nicht beigetragen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Georg Auernheimer

Früher Erziehungswissenschaftler (Schwerpkt. interkulturelle Bildung), heute politische Publizistik

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