Der totale Krieg

Ukraine-Krieg Das Ziel, Russland zu „ruinieren“ oder auf Dauer zu schwächen, ist verbrecherisch. Das ist der Schritt zum totalen Krieg. Und das wirkt auf unsere Gesellschaft zurück.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die US-Administration und unsere Außenministerin haben unisono erklärt, man wolle Russland „ruinieren“ oder aber man wolle Russland auf Dauer schwächen. Das entscheidet über die Zukunft von über 144 Millionen. So viele Einwohner zählt die Russische Föderation. Eine Verhandlungslösung ist damit außer Reichweite, das schon deshalb, weil territoriale Zugeständnisse der Ukraine ausgeschlossen werden. Die US-Administration setzt russische Generäle auf die Abschussliste. Bisher hatte sie „nur“ führende Terroristen oder iranische Militärs zum Ziel von Dronenangriffen gemacht.

Unsere Politiker:innen sind darauf bedacht, kein Blatt zwischen sich und der ukrainischen Führung zu lassen. Der ukrainische Botschafter bestimmt die Richtlinien der Politik in Sachen Ukraine. Mich wundert, dass er noch nicht am Kabinettstisch sitzt. Er hat, wie ich höre, Abertausende Follower in den sog. Sozialen Medien. Das wirkt einschüchternd. Sturmtrupps, die Vereinslokale stürmen wie früher, braucht es da nicht mehr.

Kein Ansinnen der ukrainischen Führung ist zu radikal, um nicht voll erfüllt zu werden. Russland und die Russen müssen überall ausgeschlossen werden, von Filmfestivals und generell von allen Kulturveranstaltungen, von Sportwettbewerben und Gedenkveranstaltungen, selbst wenn sie an die Befreiung von KZ-Häftlingen erinnern, die diese der roten Armee zu verdanken hatten. Der wissenschaftliche Austausch mit russischen Wissenschaftler:innen wird abgebrochen. Musiker:innen und Künstler:innen werden ausgeladen oder gekündigt. Im Zweiten Weltkrieg wurde, wie ich gehört habe, selbst nach Bombenangriffen auf englische Städte die Aufführung eines Konzerts mit deutschen Musiker nicht abgesagt!

Für den Vernichtungskrieg gegen Russland nimmt unsere Regierung die Bevölkerung in Geiselhaft. Mit Gräuelmärchen holt man sich die breite Zustimmung. „Wir“ müssten uns in Zukunft einschränken, heißt es. Von einer Klassengesellschaft wollte man noch nie etwas wissen, aber jetzt verschließt man sich sogar der Einsicht, dass manche Leute die Kombination von explodierenden Energiekosten und steigenden Lebensmittelpreisen nicht mehr stemmen können. Und dabei droht vielen noch die Arbeitslosigkeit.

Minister Habeck kanzelt die Unterzeichner des offenen Briefs an den Bundeskanzler ab. Die Forderung, Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen, wird als verantwortungslos und naiv verworfen. Ein Sturm der Entrüstung über die „naiven“ Künstler:innen ist losgebrochen. – Intellektuellenfeindlichkeit wie in der Adenauer-Ära. Die Umweltverbände warnt der Minister für Wirtschaft und Umwelt, sie sollten sich bloß nicht erkühnen, die umstandslose Errichtung von Flüssiggasterminals mit Umweltgutachten zu verzögern. Wozu ökologische Rücksichten, wozu Demokratie?

Die Kabarettisten gefallen sich in der Rolle des Hofnarren mit unverfänglichen Späßen wie in autoritären Systemen. Die Medien sind bis auf einige Nischenprodukte beinahe gleichgeschaltet, nicht per Regierungsdekret, sondern durch ein unheimliches Fließgleichgewicht. Das hat schon vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Dämonisierung Putins begonnen. Den schon 2014 erklärten Krieg der ukrainischen Regierung gegen die Separatisten-Gebiete hat man völlig ausgeblendet.i Kein Durchschnittsbürger weiß davon. Keiner hat die zerschossenen Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser zu Gesicht bekommen. Aber jetzt erscheinen die von der russischen Armee zerstörten Wohnhäuser ständig auf den Bildschirmen. Jetzt wird von traumatisierten Kindern berichtet. Das schafft die nötige Empörung, um Waffenlieferungen zuzujubeln. Und wer hierzulande russischer Herkunft ist, bekommt die Empörung zu spüren.

Blinde Empörung, zusätzlich genährt von Schreckenfantasien, treibt die Kriegsbereitschaft an. Beunruhigung wegen des Völkerrechtsbruchs durch Russland wäre noch ein Grund, wenn das Völkerrecht nicht längst Makulatur wäre. Absolute Solidarität mit der Ukraine wäre verständlich, wenn es sich um den Abwehrkampf eines demokratischen Vorzeigestaats gegen ein despotisches Regime handeln würde. Aber die demokratischen Standards in Russland und der Ukraine unterscheiden sich nicht groß.

iSiehe Ulrich Heyden (2022): Der längste Krieg in Europa seit 1945. Hamburg

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Georg Auernheimer

Früher Erziehungswissenschaftler (Schwerpkt. interkulturelle Bildung), heute politische Publizistik

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden