Ein Leben im Irrenhaus – belagertes Tripolis

Libyen. Muaad el-Sharif in Tripolis – Blog No. 3

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In unregelmäßigen Abständen bloggt Muaad el-Sharif über sein Leben in Libyens Hauptstadt.
Dieser Text ist bereits älter, vom Oktober 2016, laut Muaad hat sich die Situation jedoch kaum verändert. Im Original zu lesen unter:

https://muaadelsharif.blogspot.com/2016/10/living-in-madness-tripoli-under-siege.html

Alles wird mit jedem unseligen Tag schlimmer und kein Zeichen der Besserung ist in Sicht.

Durchgeknallte Politik und UN-Einmischung

Die Vereinten Nationen behaupten, sie möchten für Libyen eine politische Lösung. Doch mehr als zwei Jahre später ist die Spaltung Libyens tiefer als vor ihrer Einmischung! Wie viele Regierungen behaupten, sie seien legitim? Die Vereinten Nationen kümmern sich um die Migranten und geben besorgte Stellungnahmen heraus. Natürlich ist es gut, wenn die Migranten versorgt werden, aber auch die Libyer kämpfen täglich ums Überleben und besorgte Stellungnahmen bringen kein Essen auf den Tisch.

Das Putsch-Spiel

Im Oktober fand der dritte Putsch in zweieinhalb Jahren statt. Beide Regierungen befinden sich in Tripolis und behaupten, nur sie seien jetzt maßgeblich. Sie drohen, die Strafregeln zu ändern und erklären, sie hätten die Legitimation, während die andere Regierung aus Betrügern besteht. Und das allein in Tripolis.
Niemand weiß, wer das Land regiert oder wer gerade die Kontrolle hat.

Alltag in Tripolis

Wie können Menschen ohne jegliche medizinische Versorgung überleben? Wenn Banden Leute entführen und ermorden und alles plündern, was nicht niet- und nagelfest ist? Wenn die Banken kein Geld mehr haben, das man abheben könnte? Wenn täglich bis zu zwölf Stunden der Strom ausfällt?

Leben am Rande des permanenten Krieges

Jede Nacht finden Kämpfe zwischen Milizen statt, manchmal wegen Trivialitäten. Tagsüber sind im ganzen Stadtgebiet Check-points errichtet. Dort können sie dich herausholen, weil du sie irgendwie falsch angesehen hast. Oder einfach nur deshalb, weil du aus einer Gegend kommst, mit der sie letzte Woche Stress hatten!
Wohin sie mit dir verschwinden, weiß niemand. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn sie Lösegeld fordern. Du wirst irgendwo aus dem Auto geschmissen oder kannst auch tot am Straßenrand landen.

Geld abheben

Es macht mich traurig, wenn ich Frauen und alte Männer sehe, die seit Sonnenaufgang im Vorraum einer Bank sitzen, um ein bisschen Geld abheben zu können (die Banken haben seit über vierzig Tagen kein Bargeld von der Zentralbank erhalten), während sie nicht nur verbal, sondern auch handgreiflich von Milizen eingeschüchtert werden.
Um ehrlich zu sein, geht es mir genauso wie ihnen. Auch ich lasse mich einschüchtern. Ich bin in einer Bank schon in eine Schießerei geraten – glücklicherweise wurde an diesem Tag niemand verletzt. Andere waren nicht so glücklich.
Danach war ich sechs Monate nicht mehr imstande, Geld von meinem Konto abzuheben.

Inflation

Der Libysche Dinar hat 73 Prozent seines Wertes gegenüber ausländischen Währungen verloren. Dies führte zu einer hohen Inflation, die manche Waren um 200 bis 300 Prozent verteuerte! Solche Preiserhöhungen gibt es nur in Libyen! Die meisten von der Regierung subventionierten Waren werden von Händlern gekauft (Regierungspreise in US-Dollar), um dann an die Bevölkerung zu Schwarzmarktpreisen weiterverkauft zu werden (die sind dreimal so hoch wie die Regierungspreise). Einige im Land produzierte Waren wie Thunfisch werden zollfrei in die Nachbarländer gegen Dollar exportiert. Diese Waren, die rar und deshalb gefragt sind, tauchen später am Schwarzmarkt wieder auf, was die Preise noch mehr in die Höhe treibt.

Doch das alles interessiert niemanden!

Und alle bleiben ruhig und leben ihr normales Leben? Das ist empörend!
Ich weiß wirklich nicht, wie die Menschen das machen. Das sind wirklich die unbeirrbarsten Personen, die ich je erlebt habe. Oder erliegen sie der Versuchung zu glauben, dass die Dinge halt mal so sind wie sie sind, und sich sogar noch verschlechtern könnten?
Ich sehe, dass die Leute Angst haben, von Milizen erschossen zu werden, so wie es schon oft passiert ist. Es ist nicht gerade eine der angenehmsten Vorstellungen, gegen mit Drogen zugeknallte Bewaffnete zu demonstrieren. Aber es gibt andere Möglichkeiten.

Wie wäre es mit einem stadtweiten Streik

Einfach zu Hause bleiben und ein paar Tage lang nicht zur Arbeit gehen. Wenn das jeder macht, kann man etwas verändern. Du wirst überrascht sein, wie schnell jedes Problem gelöst sein wird. So können wir es schaffen.
Lass es uns so betrachten: Du bist bei deiner Arbeit unglücklich? Du wirst nicht bezahlt? Aber du findest dich dort jeden Tag ein und arbeitest so, als ob alles o.k. wäre? Was ist das für eine Logik?
Wenn du weiterhin still hältst, werden wir einer nach dem anderen abgemurkst und es wird niemanden interessieren, wenn du an der Reihe bist…

Vor fünf Jahren haben Aufständische in Sirte Oberst Gaddafi getötet. Hast Du Dir schon mal vor Augen geführt, wie es in den letzten fünf Jahren bergab gegangen ist, ganz unabhängig davon, was für eine politische Meinung du hast…

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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