Am 7. März griffen um fünf Uhr morgens IS-Kämpfer in der tunesischen Stadt Ben Gardane zeitgleich Kasernen der Polizei, der Nationalgarde und der Armee mit Granatwerfern und Schnellfeuergewehren an. Bei den stundenlangen Kämpfen kamen 28 Dschihadisten, 10 Sicherheitskräfte und 7 Zivilisten ums Leben. Die Kämpfer errichteten Straßensperren und versuchten, die Passanten zu beruhigen: „Der Angriff richtet sich nicht gegen Euch, sondern gegen das Militär und die Polizei.“ Laut Zeugenaussagen waren viele der Männer, die sich zweifellos perfekt in der Stadt auskannten, Einwohner von Ben Gardane[1].
Die tunesische Armee riegelte daraufhin alle Ausfahrtsstraßen der Stadt ab, ebenso wie die Zufahrt zur nahe gelegenen Urlauberinsel Dscherba, die Grenze zu Libyen wurde komplett geschlossen und eine nächtliche Ausgangssperre von 19 Uhr abends bis 5 Uhr morgens verhängt. Um den Angriff endgültig zurückzuschlagen, benötigte das tunesische Militär mehrere Tage. Noch am 9. März kam es zu Schießereien, bei denen nochmals sieben Dschihadisten getötet wurden. Die Armee hob ein großes Waffenlager mit automatischen Gewehren, Raketenwerfern und Sprengstoff aus.
Ein Aktivist twittert: „Das sind traurige Tage. Ein Menschenleben zählt in Tunesien nichts. Die toten Zivilisten werden kaum erwähnt.“
Das Städtchen Ben Gardane liegt nur etwa 30 Kilometer von der Grenzstation Ras Ajdir entfernt. Die Stadt lebte vor dem NATO-Krieg gegen Libyen hauptsächlich vom geduldeten kleinen Schmuggel: Billiger libyscher Sprit und die in Libyen subventionierten Gebrauchsgüter wie Kühlschränke und Fernseher wurden via kleinem Grenzverkehr nach Tunesien eingeführt, zusätzlich verdienten sich etliche Bewohner von Ben Gardane ihren Unterhalt mit illegalen Geldtauschgeschäften. Seit dem Krieg 2011 drängten immer mehr Flüchtlinge über die Grenze nach Tunesien und Ben Gardane entwickelte sich immer mehr zu einer Drehscheibe für terroristische Netzwerke und informelle Geschäfte.
Die Behauptung der Medien, der Anschlag in Ben Gardane sei völlig überraschend gekommen, kann nur als falsch bezeichnet werden, denn es ist immer offensichtlicher, dass sich in bestimmten Ländern wie Libyen und Tunesien Zentren für ausländische Kämpfer bildete. Die östlichen Küstenregionen Libyens, besonders Bengasi und Derna, waren als Rekrutierungshochburgen bekannt. In Tunesien lieferte Ben Gardane die größte Anzahl an ausländischen IS-Kämpfern, obwohl die Stadt gerademal 80.000 Einwohner hat. Die dschihadistische Tradition ist in Ben Gardane so ausgeprägt, dass der bereits 2006 getötete, frühere Anführer von al-Kaida im Irak, Abu Musab al-Zarkawi, einmal sagte: „Würde Ben Gardane in der Nähe von Falludschah liegen, hätten wir den Irak schon befreit“.[2] Seit 2012 hat die tunesische Regierung nichts dagegen unternommen, dass sich kampfbereite Dschihadisten frei bewegen und organisieren sowie ihre Hassparolen verbreiten konnten, wie zum Beispiel ein YouTube-Video, aufgenommen in Kairouan, beweist.[3]
Leila Chettaoui, Mitglied des tunesischen Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses, zeigte sich besorgt, es könne weitere Angriffe auch in anderen Regionen Tunesiens geben und so bereitet sich das Militär auf das Schlimmste vor.
Doch wie konnte es überhaupt zu dem Vorfall von Ben Gardane kommen? Er ist nur durch ein totales Versagen geheimdienstlicher Aufklärung zu erklären. Betrachtet man Fotos vom Krisenzentrum der tunesischen Armee erstaunt dies nicht wirklich. Abgebildet wird ein heruntergekommenes Büro mit zerfledderten Landkarten und fehlender technischen Ausstattung und der als starker Mann in Sicherheitsfragen inszenierte Präsident Beji Caid Essebsi ist unsägliche 90 Jahre alt! Davor werden die bestens von Saudi-Arabien mit modernsten amerikanischen Waffen ausgerüstete Dschihadisten sicher sehr große Angst haben! Und wenn der amerikanische Botschafter in Tunis erklärt, die USA werden dem Land ihre volle Unterstützung im Sicherheits- und Militärbereich angedeihen lassen, dann haben wohl eher die Tunesier einen Grund zum Fürchten.
Es wird davon ausgegangen, dass bereits an die 700 dschihadistische Kämpfer aus Syrien und Libyen in ihre Heimat Tunesien zurückgekehrt sind. Die meisten sind unerkannt ins Land gekommen, die anderen werden überwacht oder sind gleich im Gefängnis gelandet, wo eine weitere Radikalisierung einsetzen dürfte. Eine Strategie der oft gewalt-traumatisierten Rückkehrer könnte darin bestehen, dass sie sich vom IS abwenden und anderen extrem-islamistischen Gruppen, die von Saudi Arabien und der Türkei finanziert werden, anschließen und so ihren Kampf fortsetzen. Dies stellt eine große Gefahr nicht nur für Tunesien, sondern vor allem für Libyen dar, wo der IS massiv bekämpft wird, gleichzeitig aber eine Unzahl dschihadistisch-islamistischer Gruppen vor allem im Westen des Landes und in der Hauptstadt Tripolis ihr Unwesen treiben, die teilweise auch vom Westen, der Türkei und Saudi-Arabien unterstützt werden.
Angeblich war der Angriff in Ben Gardane schon seit Monaten geplant. Doch sprechen einige Gründe dafür, dass es auch aktuelle Auslöser für die massiven Attacken der Radikal-Islamisten gab. Zum einen dürfte sich der IS für die Angriffe der USA auf die IS-Stützpunkte bei Sabratha und für die durch ausländische Geheimdienste geplanten Befreiungsaktionen italienischer Geiseln gerächt haben, bei der 50 IS-Kämpfer, zum überwiegenden Teil tunesische Staatsangehörige, getötet wurden; zum anderen hat er vorgeführt, wie handlungsfähig er in diesem instabilen Tunesien trotz angelegter Grenzwälle und aller geplanter Schutzmaßnahmen ist. Und nicht zu vergessen ist der Wunsch des IS, den Westen immer weiter in den „Krieg gegen den Terror“ zu verstricken. Jeder Raketenangriff mit Zivilisten als Todesopfer treibt dem IS neue Sympathisanten und Kämpfer zu. Der IS träumt von einem Bodenkrieg in einem Gebiet, wo er sich den westlichen Armeen überlegen fühlt.
Es hilft auch der gerade in Betrieb genommene Grenzwall entlang der tunesisch-libyschen Grenze nichts, wenn der Anlass für die Unzufriedenheit im eigenen Land liegt: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem im Süden, hervorgerufen auch durch Entlassungen in den Phosphatminen, den Einbruch des Tourismus und der Unfähigkeit der Regierung, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, dass die neoliberalen Wirtschaftskonzepte von IWF und Weltbank die Situationen in Tunesien weiter verschlechtern werden. Um eine Familie in Tunesien durchbringen zu können, muss wenigstens ein Familienmitglied einen Job haben. Doch bei der sich durchgehend verschlimmernden sozialen und wirtschaftlichen Lage stehen viele Familien nun völlig ohne Einkommen da.
Auch die bisherige Haupteinnahmequelle des Landes, Überweisungen von Arbeitsemigranten aus dem Ausland, ist zusehends versiegt. Nicht nur in Frankreich macht die um sich greifende Arbeitslosigkeit tunesische Emigranten brotlos, auch in Libyen werden aufgrund des Bürgerkriegs kaum noch Gastarbeiter beschäftigt.
Den zweiten finanziellen Eckpfeiler Tunesiens bildet der Tourismus. Doch die Touristen haben Angst vor Terroranschlägen. Die Nähe zu Libyen und die politisch instabile Lage beunruhigen. So verzeichneten die Buchungen nach einem Rückgang im Jahr 2015 um 35 Prozent, bisher im Jahr 2016 einen nochmaligen Rückgang von 74 Prozent. Bereits im Jahr 2015 mussten 48 Prozent der tunesischen Hotels schließen, welch katastrophalen Entwicklungen für das Jahr 2016 zu erwarten sind, lässt sich unschwer voraussagen. Nun ist auch noch für Reisende im ganzen Land eine hohe Sicherheitswarnung ausgesprochen worden, über Facebook und Twitter sollen sich die Touristen über die aktuellen Entwicklungen informieren.[4] Diese gefährliche Entwicklung bekommen nicht nur die großen Hotelanlagen zu spüren, sondern auch die vielen Kleinhändler, die ihre Souvenirs nicht mehr an den Mann bringen. Der IS und die ihn unterstützenden Kräfte sind äußerst erfolgreich, wenn es darum geht, das Land wirtschaftlich zu ruinieren und politisch in die Katastrophe zu treiben.
Man sollte nicht vergessen, dass das alte Tunesien neben dem Mangel an Demokratie, Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte durchaus auch positive Errungenschaften vorweisen konnte wie zum Beispiel einen hohen Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, den stetigen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in den letzten Jahrzehnten, eine einigermaßen funktionierende Krankenversorgung, das Senken des Bevölkerungswachstum dank Familienplanungsprogrammen auf um die zwei Prozent und die Steigerung der Lebenserwartung auf fast 74 Jahre. Wie sich schon Anfang des Jahres 2012 abzeichnete, konnten all diese Errungenschaften seit der 2011-Revolution nicht gehalten werden und ziehen eine breite Frustration der Bevölkerung nach sich. [5] Im Bericht des IWF über das weltweite Wirtschaftsranking der Jahre 2015 und 2016 ist Tunesien auf Rang 92 (von 144 Ländern) abgerutscht.
Die Enttäuschung macht anfällig für Radikalisierung und dschihadistische Gruppierungen werden als Alternative zum säkularen Staat gesehen. Über die Ohnmacht der Regierungen gegenüber den Dschihadisten schrieb >Le Monde diplomatique<: „Dass sich junge Leute den dschihadistischen Bewegungen anschließen, entspringt dem Wunsch, einer korrupten Welt zu entfliehen. Sie streben nach einer >Läuterung< und wollen damit zeigen, dass sie die gesellschaftlichen und politischen Demütigungen satthaben.“[6] Eben diese Demütigungen aufzuheben ist der wichtigste Angelpunkt, um der dschihadistischen Bedrohung entgegenzuwirken. Eine solidarische und gerechte Gesellschaft, eine solidarische und gerechte Weltordnung, das ist die Antwort, die einem extremen Islamismus den Boden entziehen könnte.
Und was fordert der französische Botschafter in Tunesien: Jetzt endlich die libyschen Probleme zu lösen. Aha. Und wie? Am besten mit Bomben, wie im Irak, in Syrien und auch schon in Libyen praktiziert? Darauf wird es hinauslaufen. Denn die New York Times berichtete dieser Tage, dass das Pentagon auf breiter Ebene Luftschläge in Libyen durchführen wolle. Die Rede ist von 30 bis 40 Zielen in vier verschiedenen Regionen des Landes. Wie Jürgen Todenhöfer in einem äußerst interessanten Interview[7] erklärt, käme das der Strategie des IS sehr entgegen. Die Rekrutierung neuer Kämpfer wäre gesichert. Denn der IS verfolgt die Strategie, sich in Städten auf verschiedene Wohnungen zu verteilen, zwei bis vier Kämpfer in einer Wohnung, ein bis zwei Wohnungen in einem Haus. Ein paar tausend Kämpfer in einer Stadt, verteilt auf ein paar tausend Wohnungen in ein paar tausend Häusern. Eine Bombardierung wird die Zivilbevölkerung danken. 90 Prozent der Opfer bei US-amerikanischen Drohnenangriffen sollen Zivilisten sein. Ist das vielleicht auch der Grund, warum sich IS-Kämpfer in Libyen gerade in der Gaddafi-Hochburg Sirte festgesetzt haben? Wird Sirte bombardiert, trifft es ja nur Menschen vom Gaddafi-Stamm, die ihrem Revolutionsführer bis zuletzt die Treue gehalten haben. Todenhöfer bringt übrigens noch ein weiteres sehr anschauliches Bild über die Vorgehensweise des Westens gegen den IS. Er vergleicht sie mit jemanden, der mit Knüppel auf ein Wespennest einschlägt, nachdem er von einer Wespe gestochen wurde. Wie die Wespen darauf reagieren, dürfte bekannt sein.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte der damalige Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten und spätere Außenminister Colin Powell: „Mir gehen die Schurken aus. Ich habe nur noch Fidel Castro in Kuba und den Machthaber in Nordkorea.“ Doch siehe da, mit 9/11 und dem darauf folgenden Kampf gegen den Terror war ein unerschöpflicher Vorrat an Feinden kreiert und ein niemals endender Krieg möglich geworden. Der so gewinnträchtige militärisch-industrielle Komplex konnte am Laufen gehalten werden. Und ein paar alt-neue Widersacher wie Saddam Hussein und Gaddafi (an Assad biss man sich bisher die Zähne aus) konnten auch gleich beseitigt und deren Länder gespalten und verwüstet werden.
Was für eine Inszenierung!
Kommentare 13
„Die Behauptung der Medien, der Anschlag in Ben Gardane sei völlig überraschend gekommen, kann nur als Lüge bezeichnet werden...“ – Wir wussten es doch schon lange: „Lügenpresse! Lügenpresse!“ PEGIDA lässt grüßen! Ist dieser Aufguss nicht etwas zu dünn und unter Niveau?
Béji Caïd Es Sebsi [nicht: el Sebsi] ist der tunesische Präsident und in seinen Machtbefugnissen durchaus dem deutschen Bundespräsidenten vergleichbar. Ihn als Oberbefehlshaber der tunesischen Armee anzuführen ist entsprechend irreführend. Verantwortlich für die Armee bzw. Polizei, Geheimdienst etc. sind die entsprechenden Ministerien - wie bei uns auch.
Auf das eine Wort kommts vielleicht hier nicht so sehr an, oder?
Danke aber für den Hinweis bzgl. des Präsidenten, das hatte mich auch für einen Militär etwas gewundert - hochdekoriert aus dem Unabhängigkeitskrieg oder was ;-)
Tunesien ist ein naheliegendes nächstes Ziel der Jihadisten, aber auch ein relativ kleines Land. Die wirkliche Gefahr lauert in Algerien: Was, wenn der dortige starke Mann stirbt? Hat dafür irgendwer einen Plan inner- oder außerhalb des Landes?
Nur die LibyerInnen können ihr Land von den Jihadisten befreien. Und ich hoffe, dass EU und USA sich etwas dabei denken, wenn sie ständig mit Einheitsregierung und Intervention drohen. Die Drohung könnte durchaus eine positive Wirkung haben, aber ihre Umsetzung wäre eine Katastrophe.
Nein, echt, das darf nicht wahr sein! Mit Pegida hab ich wirklich überhaupt nichts am Hut. Ich hätte es wohl so formulieren sollen: "Die Behauptung der Medien, der Anschlag in Ben Gardane sei völlig überraschend gekommen, ist einfach falsch/unrichtig/nicht wahrheitsgemäß...
Wenn Sie sich auf den Inhalt meines Beitrags beziehen und nicht an einem Wort festklammern, wäre Ihnen das sicher klar geworden.
Sogar Wikipedia schreibt über el-/es Sebsi/Essebsi (mit der Transkription aus dem Arabischen ist es nicht immer so ganz einfach, wie Sie sicher wissen): Essebsi selbst wurde insbesondere nach dem islamistischen Anschlag in Tunis 2015 als starker Mann in Sicherheitsfragen inszeniert
https://de.wikipedia.org/wiki/Beji_Caid_Essebsi
Und ich kann nur davor warnen, die Realitäten in Tunesien wieder wie in anderen Ländern nicht zur Kenntnis zu nehmen. Meine Freunde in Tunesien haben Angst.
Gerade weil Tunesien ein recht kleines, zwischen Libyen und Algerien eingezwängtes Land ist und es mit beiden Ländern eine schwer zu schützende, lange Sahara-Grenze verbindet, halte ich es für äußerst gefährdet.
Sicher haben Sie recht, was Algerien betrifft. Aus eigener Anschauung kenne ich nur den saharischen Süden des Landes, ansonsten weiß ich über die algerische Politik nicht wirklich Bescheid.
Heute berichtet die Süddeutsche Zeitung: "Die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien sowie die EU [also die üblichen Verdächtigen] haben die neue Regierung der nationalen Einheit in Libyen als einzig legitime Vertretung des Landes anerkannt. (...) In ihrer Erklärung drohen die Außenminister allen, die sich der Einheitsregierung widersetzen, mit Sanktionen. Allerdings lehnten auch einige Mitglieder des libyschen politischen Dialogs [hatten das Abkommen von Skhirat über die Einheitsregierung] ausgehandelt die Erklärung des Präsidialrates ab und sprachen von einer falschen Interpretation."
Das bedeutet, es wird vom Westen eine Marionettenregierung installiert, die in Tunis residiert und keinerlei Rückhalt im Land hat, aber nun nach einer Intervention des Westens rufen wird. Bagdad und Kabul lassen grüßen! Und hinterher will es wieder keiner gewusst haben...
Die von Ihnen beanstandeten Passagen habe ich mir erlaubt zu korrigieren. Inhaltlich hat sich dadurch natürlich überhaupt nichts geändert.
Was Algerien angeht kenne ich mich auch keineswegs aus, hatte es nur ein paar Mal gelesen und einleuchtend gefunden. Und natürlich ist Tunesien sehr gefährdet und machen sich die Menschen dort sehr berechtigte Sorgen, aber für die längerfristige Stabilität Nordafrikas scheint mir die Frage eben noch wichtiger, was in Algerien passiert.
Was Libyen angeht sehe ich weiterhin nicht, wer ein Interesse an einer Intervention hätte: Die USA, mitten im Wahlkampfjahr? Die EU-Staaten, die bereits genug Sorgen mit Syrien und der Türkei haben und kaum eine neue Fluchtbewegung auslösen wollen? Erscheint mir beides eher abwegig, und daher würde es mich extrem wundern, wenn mehr als Spezialeinheiten und einige Luftangriffe geschickt würden. Die Hoffnung ist, dass die LibyerInnen dazu gebracht werden können, selbst den IS usw. zu bekämpfen, wenn nötig mit "sanftem" Druck.
Algerien ist sicherlich politisch bedeutsamer als Tunesien, doch sieht es mir nach einem Domino-Effekt aus: Ein Steinchen fällt nach dem anderen, da ist auch mal ein kleineres dabei.
Die USA werden sicher keine Bodentruppen schicken, doch sie haben ja ihre Spezialeinheiten schon drin, ebenso wie Frankreich und Italien. Die Führung der ganzen Unternehmungen liegt bei Italien. Dies hat auch eine Logik: Italien hat das Flüchtlingsproblem (Libyen ist voll von schwarzafrikanischen Flüchtlingen, die über den Winter durch die Sahara nach Libyen kamen und jetzt auf günstiges Wetter für die Mittelmeerüberquerung warten) und die italienische Mineralölgesellschaft Eni ist in Libyen aktiv bzw. gefährdet.
Noch einmal zur Person Caïd Essebsi. Auch hier muss man bei den Formulierungen sorgfältig sein, egal was andere schreiben und auch wenn es haarspalterisch erscheint. Caïd Essebsi ist fraglos jemand bei dem Passiv-Formulierungen (z.B. wurde ... als starker Mann in Sicherheitsfragen inszeniert)nicht angebracht sind.
Ich bin sicher, dass er zu jenen starken Personen gehört, die es nicht nötig haben, sich irgendwie von irgendwem vor einen Karren spannen zu lassen. Caïd Essebsi gibt die Richtung vor und wenn ihm eine Inszenierung notwendig erscheint, dann ist mit Sicherheit er selbst er Regisseur. Als Innen-, Verteidigungs- und Außenminister unter Bourguiba kennt er das Geschäft der Macht. Ihm ist vollkommen klar, dass seine starken und klaren Statements nicht von ihm, sondern von der Regierung umgesetzt werden müssen.
Jetzt habe ich mich noch noch einmal schlau gemacht und muss Ihnen mitteilen, dass Essebsi zwar der Präsident von Tunesien ist, in dieser Funktion aber auch der Oberbefehlshaber der Armee! Die Formulierung "als starker Mann in Sicherheitsfragen inszeniert" habe ich aus Wikipedia übernommen und diese Formulierung scheint mir sehr gut getroffen. Essebsi ist als Machtmensch verschrien, ja man kann ihn gut als eine Marionette der USA und Katar bezeichnen. Bei der Niederschlagung der Attacken in BEn Guardane waren übrigens auch britische Militärkräfte beteiligt. Man sieht also, wer im Moment im Land das Sagen hat.
http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/british-special-forces-helping-tunisian-7547173
Essebsi arbeitet augenblicklich daran, seinen Sohn an den Schaltstellen der Macht zu installieren.
Der erste tunesische Präsident Bourguiba wurde gerne als commandant suprême, also Oberbefehlshaber, bezeichnet. Es war Absicht der neuen Verfassung mit der Machtfülle des Präsidenten zu brechen. Und in der Tat taucht dieser Begriff dort auch nicht auf.
Es gibt allerdings einen Punkt, in dem die Regierung Macht mit dem Präsidenten teilen muss.
Dieses sind die Bereiche der Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in denen der Präsident ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Minister- und Staatsekretärposten hat (Artikel 89). Hier hat der Präsident die Aufgabe die generelle Ausrichtung der Politik nach Absprache mit dem Premierminister festzulegen (Artikel 77, Kapitel IV). Außerdem führt er bei Sitzungen der entsprechenden Ministerien den Vorsitz (und kann dadurch natürlich lenkend wirken)(Artikel 93). Das macht ihn aber noch lange nicht zum „starken Mann“, wenn er nach außen hin diese Rolle auch spielt bzw. spielen muss.
In seiner Analyse der neuen tunesischen Verfassung bestätigt Professor Habib Slim meine Ausführungen (http://www.leaders.com.tn/article/13272-la-nouvelle-constitution-tunisienne-analysee-par-le-pr-habib-slim): «Mais, si on compare les pouvoirs du chef de l’Etat [=Präsident] et ceux du chef du gouvernement [=Premierminister], on s’aperçoit que cette dyarchie est très inégalitaire, au détriment du chef de l’Etat. En fait, les attributions de ce dernier sont surtout des attributions honorifiques …, si on excepte le pouvoir de déterminer les politiques de l’Etat en matière de politique étrangère, de défense nationale et de sécurité intérieure et extérieure, après consultation du chef du gouvernement.»
Abgesehen davon, stimme ich mit vielen Ihrer Ausführungen überein.
Mein Gedächtnis hat mir einen Streich gespielt.
Ich muss mich korrigieren: Bouguiba war natürlich der "combattant suprême" - begründet in seinen Aktivitäten im tunesischen Unabhängigkeitskampf.
Sein Titel als Oberfehlshaber war «chef suprême des forces armées» nach Artikel 44 der Verfassung von 1959. In der Tat wird heute der Artikel 76 der neuen Verfassung herangezogen, um dem Präsidenten die gleiche Funktion zuzuordnen. Der Artikel 76 gibt dieses aber höchstens indirekt her, denn er formuliert nur den präsidialen Eid (« Je jure par Dieu Tout-Puissant de sauvegarder l'indépendance de la Tunisie et l'intégrité de son
territoire, de respecter sa Constitution et ses lois, de veiller à ses intérêts et de lui être loyal»). Ergänzende Anmerkungen, Erklärungen bzw. Bestimmungen zu diesem Artikel sind mir nicht bekannt - das verlangt einen Verfassungsjuristen.
Es hat mir keine Ruhe gelassen und ich habe noch einmal gesucht: Es ist nicht der vom franz. Wikipedia angeführte Artikel 76, sondern ein unscheinbarer Satz im Artikel 77, der frei übersetzt lautet. „Er [der Präsident] ist ebenfalls ermächtigt, das Oberkommando der Streitkräfte sicher zu stellen.“ (Es liegen mir 2 differierende franz. Fassungen vor: Il est également habilité à assurer le haut commandement des forces armées. / Il est également compétent pour le haut commandement des forces armées.).
O.k. jetzt wissen wir es ganz genau.