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Russland Warum ich kein Russlandversteher mehr sein kann

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Ich muss gestehen, ich bin einer derjenigen, die bis zuletzt "Russlandversteher" waren.
Und ich bin auch weiterhin der Meinung, dass es in diesem Konflikt keine "Guten" gibt (die gibt es nie).
Selbst einen russischen Einmarsch in die Separatistengebiete hätte ich verstanden.
Aber das jetzige Vorgehen kann ich nicht mehr gutheißen ...

Dass ich kein Russlandversteher mehr sein kann, liegt aber nicht nur an einem Nicht-Gutheißen-Können:
Ich kann die Rationalität des Vorgehens nicht mehr erkennen, auch wenn ich die Situation völlig wertfrei betrachte.
Die alte russische Angst, zu einer Rohstoffkolonie herabzusinken, erkenne ich vollkommen an - dafür ist schon zu oft versucht worden, das ins Werk zu setzen, nicht zuletzt von deutscher Seite.
Aber ich denke, dass genau das jetzt gar nicht mehr abzuwenden ist.

Die Rede vom Zeitenwandel, der jetzt in Gang gesetzt wurde, ist mehr als Propagandageschwafel.
Die russische Führung hat sich ihrer strategischen Wahlfreiheit beraubt zwischen den sich abzeichnenden geopolitischen Blöcken des 21. Jahrhunderts. In dem eurasischen Bunker, in den Russland sich jetzt zurückzieht, sitzt mit China eine Macht, die Russlands einziger verbleibender Bündnispartner ist, aber zugleich ein Gravitationszentrum, das Russland ab jetzt in sich hineinsaugen wird.

Das betrifft die Abnahme seiner fossilen Energieressourcen, aber auch die Abwicklung internationaler Geldströme und die Versorgung mit state-of-the-art Halbleitern. Russland klebt jetzt im Orbit des Planeten China fest - die Vorteile, die es sich von einer multipolaren Weltordnung versprochen hat, sind futsch, denn wir kehren zurück in die Bipolarität, und der Dynamik Chinas hat Russland nichts entgegenzusetzen.
Mit einem Schlag haben die Strategen des Kreml' ihr Land zu einer Zukunft in der globalen Peripherie verdammt.

Über all das freue ich mich nicht: Die geschmeidige Welt der Atlantiker verachte ich. Aber ihrem Durchmarsch in Europa sehe ich jetzt keine Grenzen mehr gesetzt. Und das wird für Europa Schlimmeres bedeuten, als vielen momentan klar ist. Denn die Zeiten, in denen Europa für die USA oberste Priorität hatte, sind lange vorbei. Europa wird jetzt der Rand der Landkarte (deren Zentrum der Pazifik ist), sprich: eine Sackgasse. Die Europäer werden jetzt wieder schlucken müssen, was "an ocean away" entschieden wird, aber im Gegensatz zu früher wird man über uns erst entscheiden, wenn die wirklich wichtigen Dinge geklärt sind.

Verschüttete Milch ... und Häme, dass der "Schachklub Moskau" es selber verkackt hat, liegt mir fern.
Wenn jemand einen Grund für Optimismus kennt, würde ich ihn gern erfahren ...

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Geschrieben von

Lt. Commander Geordi LaForge

If it works the way I think it will, once the invasive program starts spreading, it'll only be months before the Borg suffer total systems failure.

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