Wenn Einheit Schaden anrichtet

Linkspartei Warum die Linkspartei so, wie sie ist, nicht bestehen bleiben sollte

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Wenn ein Mensch aus dem Deutschland des Jahres 1900 in unsere Zeit versetzt würde, könnte er/sie kaum verstehen, wie unsere heutige politische Landschaft aussieht - vor allem an ihren äußeren Spitzen: Dass die Arbeiterklasse großenteils eine rechtsradikale Partei wählt, weil sie sich von dieser vertreten fühlt gegen "die da oben" mit ihrem Menschenrechts- und ähnlichem Geschwafel ... und die radikale Linke mehr und mehr zu einer akademischen Veranstaltung wird.

Woran liegt das? Und ist das eine schlimme Sache? Unter welchen Umständen?

Wer sich mit politischen Kämpfen auch außerhalb des Tellerrands befasst, kennt das Beispiel des "Chinese Exclusion Act", eines anti-chinesischen Einwanderungsgesetzes, das in den USA 1868-1943 unter verschiedenen Titeln in Kraft war, und das in erster Linie von den Institutionen der Arbeiterbewegung vorangetrieben wurde. Man mag das verwerflich finden, doch die Motive dafür lagen nicht in irgendeiner politischen Idee, sondern schlicht in der Existenzsicherung des US-Proletariats, das mit den Löhnen der Chinesen nicht mehr hätte konkurrieren können (u.a., weil diese ohne Familien einreisten).
Auch wenn für das US-Proletariat theoretisch wesentlich mehr zu holen gewesen wäre, wenn es stattdessen seine heimischen Ausbeuter beseitigt und ersetzt hätte, mag dies als Lehrstück darüber dienen, dass der Wille der Arbeiterklasse sich grundlegend unterscheiden kann von dem, was eine sozialistische Bewegung wollen kann.

An einem ähnlichen Punkt scheinen wir heute wieder zu sein - v.a. dann, wenn man unter "Proletariat" jene Bevölkerungsschichten versteht, die kulturell der althergebrachten Arbeiterklasse nahestehen. Das müsste man nicht so sehen, da die Definition von "Arbeiterklasse" im marxistischen Sinn ganz einfach ist: Wer kein Privateigentum an Produktionsmitteln besitzt. Aber die gegenwärtige Gesellschaft neigt dazu, die "Arbeiterklasse" eher anhand ethnologischer Kriterien zu identifizieren (Selbstbeschreibung: die "mitte Hände arbeiten"). Gehen wir darum im Folgenden von der "Arbeiterklasse" im ethnologischen Sinn aus (denn alles andere hieße, die Menschen zu entmündigen, die sich nun mal selbst so definieren).
In dieser Situation ist die politische Schnittmenge zwischen der Linken und der Arbeiterklasse recht gering, was sich ja auch in den Wahlergebnissen spiegelt. So weit, so schlecht ...

Wir, die wir diese Zeitung lesen, betrachten uns als "Linke", also mehr oder weniger als progressive Sozialisten, und wir sind seit Langem unglücklich darüber, dass uns das revolutionäre Subjekt abhanden kommt. Auch wenn wir uns alle Mühe geben, andere Benachteiligte heranzuziehen, können diese doch (auch in Summe) niemals die kritische Masse ausmachen, die eine Arbeiterklasse im marxistischen Sinn ausmachen würde. Wir sind also zur Opposition verdammt, solange wir uns nicht wieder an diese Klasse anbinden als ihr Sprachrohr. Und die Arbeiterklasse im marxistischen Sinn ist eben doch (zumindest im Kontext der BRD) zu einem guten Teil identisch mit der "Arbeiterklasse" nach ihrer eigenen, kulturalistischen Definition; zumindest gibt es ohne letztere keine Chance auf eine Mehrheit.

Und was brauchen wir? Eine in sich stimmige Lehre? Moralische Überlegenheit? Nein: Wir brauchen eine Mehrheit ...

Wir sollten dabei nie vergessen, dass wir selbst allenfalls zur Arbeiterklasse im marxistischen Sinn gehören, aber nicht im Sinn zur "Arbeiterklasse" nach deren eigener Definition (von denen liest vermutlich kaum jemand diese Zeitung).
Das ist auch nicht schlimm; wir sind eine "pressure group", oder könnten es zumindest sein.
Wir und die "Arbeiterklasse" könnten uns aber gegenseitig ausnutzen, sprich: eine Symbiose eingehen.
Was die "Arbeiterklasse" nach deren eigener Definition davon hätte: Wir vertreten die Interessen der Arbeiterklasse im marxistischen Sinn und damit - objektiv betrachtet - zumindest zu einem Großteil deren Interessen, auch wenn sie das nicht sehen kann oder will. Was wir davon haben: Unsere Existenzberechtigung.
Wir sind die Mathematik, sie sind die Zahlen.

So wie es momentan steht, ist so eine Symbiose jedenfalls in weiter Ferne; und damit kommen wir zur Situation der Linkspartei ...
Auch wenn das einem progressiv gesinnten Menschen unangenehm ist: Bestimmte Teile der gegenwärtigen linken Programmatik sind äußerst hinderlich dabei, Menschen aus der "Arbeiterklasse" erfolgreich anzusprechen (wie es das "kippingianische" Lager erfahren musste); denn autoritäre, heteronormative und rassistische Ansichten sind dort enorm weit verbreitet, genauso wie eine skeptische Haltung gegenüber offiziellen Wahrheiten, sei es bei Corona, beim Klimawandel oder beim Holocaust. Und das gilt auch dann, wenn man migrantische Milieus hinzunimmt.
Genauso ist es logischerweise äußerst hinderlich bei der Ansprache progressiv gesinnter Menschen, wenn man Ansichten der Menschen aus der "Arbeiterklasse" vertritt (wie es das "wagenknechtianische" Lager achselzuckend in Kauf nimmt).

So kann es jedenfalls nicht weitergehen - man reißt mit dem Arsch ein, was man vornerum aufbaut.
Es wird Zeit, dass die Linkspartei Konsequenzen aus dieser schizophrenen Situation zieht.
Und nach Lage der Dinge halte ich es für das Beste, wenn man sich trennt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Das muss keine empörungsschwere Spaltung in alter linker Tradition sein.
Es ginge darum, Spielraum auf verschiedenen Seiten zu gewinnen:
Eine "kippingianische" linksgrüne Partei könnte viel einsammeln bei denen, die von Regierungsgrünen enttäuscht sind, denn deren immer weitergehende Kompromisse verstören viele an der Basis.
Und eine "wagenknechtianische" Arbeiter-Partei könnte viele Verirrte von der AfD zurückholen, denn die hat denen ja nicht wirklich was zu bieten.
Um mal das Minimalziel zu beschreiben: Was ist besser - eine 5%-Partei oder zwei 5%-Parteien?

Klar muss dabei aber sein: Wir bleiben Verbündete - getrennt marschieren, vereint schlagen.
Wir sind Agitation und Propaganda; Laurel und Hardy; Aronal und Elmex.
CDU und FDP machen es seit jeher vor - warum nicht auch mal von den Rechten lernen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lt. Commander Geordi LaForge

If it works the way I think it will, once the invasive program starts spreading, it'll only be months before the Borg suffer total systems failure.

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