Wenn es wahr ist, dass all das „wirklich“ wird, was einen Begriff, eine Erzählung und ein Bild hervorbringt, dann wäre in der Tat kein Medium so dazu geeignet, Wirklichkeit zu produzieren, wie das Kino. Europa zum Beispiel. Wäre es nicht wunderbar, sagen zu können: ins Kino gegangen. Europa gesehen!? Aber ach, wie es scheint, handelt ein europäischer Film in aller Regel von allem Möglichen, nur nicht von Europa. Es findet keine Erzählung von Europa statt. Kein Bild von Europa. Und die Begriffe sind gespenstisch und fern.
Für die bemerkenswerte Abwesenheit Europas im europäischen Film gibt es gewiss mehrere Gründe. Der, an den wir uns am meisten gewöhnt haben, ist die regionale und kulturelle Vielfalt. Vor nichts haben wir offenbar mehr Angst, und zwar keineswegs unberechtigt, als vor einem europäischen „Brei-Film“, also einem Film, der vor allem die Umstände seiner Ko-Produktion und die Bedürfnisse seiner Publika widerspiegelt. Ein Film, an dem europäische Schauplätze aneinandergereiht werden, in dem Stars und Regulare aus allen beteiligten Cinematografien auftauchen und in dem darauf geachtet wird, dass nichts vorkommt, was auf den angezielten Märkten als Kassengift erscheinen könnte.
Mit Gramsci in den Kulissen
So etwas gab es in den 1960er und 1970er Jahren schon einmal; diese sogenannten Euro-Trashfilme, die heute in den DVD-Sammlungen der Pop-Archivare lagern: Piraten- und Musketierfilme, Horror und Agentenstories, schließlich entstand auch der Italowestern als europäischer Hybrid. Euro-Trash wird heute hauptsächlich für das Fernsehen produziert, häufig mit einem gewissen nationalen Branding: Skandinavische, deutsche, italienische oder britische Kriminalserien sollen sich durch einen gewissen Touch voneinander unterscheiden, während umgekehrt die nimmersatte deutsche Produktion ganz Europa nach attraktiven Hintergrund-Settings für die immergleichen und dann letztlich sehr deutschen Helden und Stories absucht. TV-Euro-Trash ist eine Art touristische Kulissenschieberei; wer mag, kann darin mit Antonio Gramsci einen inneren Kampf um kulturelle Hegemonie am Werke sehen.
Das europäische Kino von Rang funktioniert dagegen ganz anders. Das Pfund, mit dem sie im Wettbewerb mit der internationalen Konkurrenz der Traumfabriken nun nicht eben wuchern können, ist die „Identität“ dieser Filme. Ihre erste Aufgabe besteht darin, nicht „Brei“ zu werden. Politische Ökonomie und ästhetische Moral kommen einander dabei massiv in die Quere. Während man nämlich, von den wenigen spektakulären Erfolgen der „nationalen Komödie“ abgesehen, auf Zusammenarbeit bei der Produktion ebenso angewiesen ist wie auf gemeinsame Märkte (Sieht nicht unsere famose Filmkritik mit Argusaugen auf die Anzahl deutscher Filme im Wettbewerb bei den großen europäischen Festivals?), muss das Produkt sowohl über die Handschrift der Autoren als auch über die Nationalität identifizierbar bleiben.
Einen Ausweg suchen jene nomadischen Filmemacher, die bewusst oder durch die Umstände gezwungen an europäischen Orten arbeiten, an denen sie nicht unbedingt zu Hause sind. Aki Kaurismäki, Lars von Trier und bis zu einem Grad auch Wim Wenders sind auf solche Weise „europäische Filmemacher“, und sie können es sein, weil ihre Marke als Autor etabliert genug ist, um sich nicht in einer nationalen Cinematografie definieren zu müssen.
Diese nationalen Cinematografien in Europa sind letztlich nichts anderes als kulturelle Überlebensbiotope mit jeweils spezifischen Bedingungen. Dass die nationalen Cinematografien aus eigener Kraft in Wahrheit ökonomisch und sozial gar nicht überlebensfähig sind, setzt sich bis in die Praxisteile der Produktion fort – für das Kino arbeitet man prekär und mit dem Scheitern vor Augen; man ist zu sehr auf Förderung und Zusatzeinkommen angewiesen, um sich wirklich frei in einem Kinoraum namens Europa bewegen zu können; auf die Kälte des Marktes antworten die Cineasten mit wärmenden Szenen und Milieus; die Einzelkämpfer müssen Strategien der politischen Ökonomie entwickeln, vor Ort zu überleben, und am Ende steht auch jeder Filmemacher, jede Filmemacherin in einer immer noch national geprägten Ästhetik und Geschichte (des Films).
Dafür, dass das Kino keine Bilder und keine Erzählungen zu Europa findet (wie sie sich, vielleicht, in Filmen von Theo Angelopoulos andeuteten), gibt es noch eine weitere, deprimierende Erklärung: Es gibt sie einfach nicht, die Bilder und Erzählungen von Europa. Und natürlich nützt da weder Pop-Propaganda für die gute Sache noch Zweckoptimismus. Die Suche nach den Wurzeln von Europa ist viel zu schmerzhaft (womit wir wieder bei Angelopoulos wären) und zu wenig aussichtsreich, um cineastische Erfolge zu erzielen. Es scheint, als könne uns nur das interessieren, was entweder viel näher oder viel entfernter ist als Europa.
Anfang und Ende
Im Übrigen verbietet sich, nur zum Beispiel, eine realistische oder satirische Darstellung der real existierenden europäischen Politik, da jede Form der Kritik zweifellos falsch oder von den Falschen verstanden werden könnte. Die Hälfte der Bevölkerung, fast überall, schimpft lustvoll auf die „Brüsseler Bürokratie“, während man die Segnungen der Gemeinschaft durchaus genießt. Aber ein Kino, das das Durcheinander von Hoffnungen und Unbehagen aufnimmt, gibt es nicht. Europa ist, wenn überhaupt, nur durch die Augen der Fremdheit oder anhand der Figur des Fremden zu erzählen.
Mit den Augen von Flüchtlingen, die Europa als Labyrinth und Verfolgung erleben wie in Io sto con la sposa (An der Seite der Braut, 2014), der abenteuerlichen Fluchtgeschichte einer Gruppe von palästinensischen und syrischen Flüchtlingen mit Hilfe italienischer Freunde in der Verkleidung eines Brautpaares: Europa als Grenzzustand, der auf humanistische Erlösung wartet. Oder durch die Augen eines nomadischen Filmemachers wie Raoul Peck, der seinen jungen Marx viel eher europäisch als deutsch definiert und wenigstens erahnen lässt, dass Europa eine Hoffnung für die Arbeiterklasse, eine Beute aber für das Bürgertum war (und ist).
Genau besehen können wir Europa im europäischen Kino beim Verschwinden zuschauen. Die Cinematografien renationalisieren sich, kehren zu Mythen und Bildern der Länder und Regionen zurück oder suchen Weite jenseits von Europa, vielleicht jenseits eben der Wirklichkeit, für die es Begriffe, Bilder und Erzählungen braucht.
Dass sich Europa nicht erzählen lässt, mit dieser Klage beginnt auch das Programm-Vorwort zur trotzig Europa erzählen benannten Retrospektive im Wiener Filmmuseum. Und dieses Programm zeigt, wie schwierig wir es noch haben werden mit einem Europa im Kino. Es beginnt – was die Filmgeschichte anbelangt – mit dem Ende, wie in Europa ’51 von Roberto Rossellini. Mit dem Ende des Krieges, gewiss, aber mehr noch mit dem Ende jener Klasse, die am ehesten europäisch zu werden versprochen hatte: dem Bürgertum. Rossellini zeigt in seinem Film, den man als Melodram missverstehen kann, Kälte und Fremdheit. Mit der politischen und ökonomischen Restauration hält die emotionale und moralische nicht Schritt.
Und so ist der erste europäische Film, der schon im Titel das Projekt vermittelt, bereits ein Versuch über die Unmöglichkeit. Mit dieser Klasse ist Europa nicht zu schaffen. Anders gesagt: In diesem Bürgertum liegt die Wurzel der Unerzählbarkeit Europas. Und noch einmal anders gesagt: Eine Vielzahl von europäischen Filmen über das Bürgertum lassen sich als Europa-Filme der Negation sehen. Was auf den Neorealismus in Italien folgte, das Kino der Fremdheit und der Gewalt von Antonioni, Visconti oder Pasolini, das waren Reisen zu den Wurzeln des europäischen Bürgertums, das gerade in seiner Verwandtschaft miteinander zu keiner Einheit werden konnte.
Schon damals war der Blick von außen eine Lösung: Europa liebte sich in den Hollywood-Filmen, die Rom, Paris, Madrid und Berlin als liebenswert rückständig und voll vitaler Ästhetik zeigten, und es konnte sich erkennen (wenn es gewollt hätte) in Filmen wie Orson Welles’ Confidential Report (1955), in seinen Ruinen und seinem Taumel. Nahezu alle Filme, die in der Retrospektive zu sehen sind, zeigen Europa gleichsam von der Seite, aus der Fremde, im Zwielicht. Sie zeigen das Leiden daran, dass es vielleicht ein äußeres, aber kein inneres Projekt Europa gibt. Was uns eint, ist die Fremdheit; gewiss gibt es (noch) kein Bild für Europa, aber die Arbeit an den Blicken, die könnte nun wirklich beginnen.
Info
Die Retrospektive Europa erzählen des Wiener Filmmuseums läuft bis 25. Juni: filmmuseum.at
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