Keine Pippi Langstrumpf

Fridays for Future Wie Greta Thunberg die Herrschaft der alten weißen Männer in Frage stellt
Ausgabe 40/2019
Bietet ein Bild der heilsamen Diversität: Greta Thunberg
Bietet ein Bild der heilsamen Diversität: Greta Thunberg

Foto [M]: Renaud Bouchez/Society/Signatures/Laif

Es war einmal eine Welt, die wurde von finsteren alten weißen Männern beherrscht. Einige von ihnen verbargen ihre schiere Bosheit unter einem Mantel der Verbundenheit mit Volk, Nation, Rasse und Geschlecht, andere sagten „Markt“ und „Wohlstand“ und „Arbeit“. Viele von ihnen beherrschten die Kunst, die Sprache und die Sprechweisen in ihrem Sinn zu manipulieren und zu vergiften. So gelang es den alten weißen Männern, große Scharen von Anhängern um sich zu bilden, von denen einige vielleicht tatsächlich an die Lügen glaubten, die sie verbreiteten.

Andere sahen ihren kleinen Anteil an der Macht oder am Reichtum, der verlockender war als eine „Rettung der Welt“ oder andere Humanitätsduseleien. Wieder andere sahen sich einfach entlastet. Man hatte ihnen gezeigt, wer zu verachten und zu hassen war, man hatte ihnen gesagt, dass die Bedrohungen, die aus den Verbrechen gegen die Natur, gegen die Menschen, gegen die Gesellschaften und gegen die Kultur stammten, ja nichts anderes als Fake News der drei Hauptobjekte des Hasses waren: der schurkischen demokratischen Eliten, der von außen wirkenden und flutenden Migranten, hinter denen wiederum schurkische Verschwörer steckten, und der inneren Schurken, der kritischen, grün-links-versifften, gender-verseuchten und gutmenschlichen Kultur der Volksverräter. Klimaveränderung? Kindische Behauptung, Lügenpresse, chinesische Propaganda.

Eine gewisse römische Göttin

Die Herrschaft der alten weißen Männer, der sich durchaus auch ein paar lautstarke Frauen anschließen konnten, und natürlich auch junge weiße Männer, wenn sie ins Bild passten, ja, man sah sogar „people of color“ in ihren Reihen, schien allseits gesichert. Der alten, mehr oder weniger demokratischen Kultur fehlte längst die Kraft zum Widerstand, die humanistische Gegenwehr stellte sich zwar tapfer auf, fand aber weder ein adäquates Mittel, zu den alten Formen von Diskurs und Debatte zurückzukehren oder neue demokratische Umgangsformen zu etablieren, noch war sie der anschwellenden Disposition der Mitte zu Korruption, Opportunismus und Angst gewachsen. Gegen die weiter und weiter ins Faschistische wachsende Herrschaft der alten weißen Männer und ihrer Verbündeten schien Opposition immer mehr hilflos. Was sollte da Vernunft, was sollte Verantwortung, was sollte Moral noch bewirken?

Nein, die alten Mittel der Aufklärung und der Demokratie, sie halfen nicht mehr. Die alten weißen Männer hatten ja nicht nur die Sprachrohre, sie hatten die Sprache selbst gekapert, sie verhöhnten jede Wirklichkeit, die nicht jene war, die sie selber herstellten. Aber was tun, wenn die Mittel der Aufklärung, der Kritik und der Gespräche nicht mehr nutzten? Was, wenn eine Rückkehr zu Vernunft, Moral und Mitmenschlichkeit mit den Mitteln, die einer demokratischen Zivilgesellschaft zur Verfügung stehen, nicht in Aussicht steht? Was, wenn die drohende Katastrophe durch die von den alten weißen Männern entfachten Gewaltnebel unsichtbar wird?

Dann, vielleicht, muss das Rettende größer, anders, transzendenter sein als die versagenden Diskurse. Die Opposition gegen diese Herrschaft musste so unbedingt, so unschuldig, so fundamental sein, dass sie den Bereich des reinen Diskurses, auch den des Schemas von Reiz und Reaktion, Provokation und Gegenwehr, eine semantische und manchmal auch reale „Schlachtordnung“, die Kurzlebigkeit von Prominenz und Story in den Medien hinter sich ließ.

Die kleinlichen „Erinnerungen an die Wirklichkeit“ sind nicht mehr genug, und schon gar nicht darf sich noch jemand auf die Politik als „Kunst des Möglichen“ herausreden, dafür ist es zu spät. Es muss nun jemand erscheinen, der die vollkommene, reine, unbedingte, ungeschönte, absolute Wahrheit sagt. Nein, jemand, der diese Wahrheit ist. Und aussehen muss dieser Jemand wie Greta Thunberg.

Die römische Göttin Mania hat nie so recht eine Gestalt angenommen. Man hat sie wohl nicht so sehr öffentlich verehrt, ihr auch keine Tempel gebaut und keine Kulte gewidmet. Vielleicht war sie nur eine Transformations-Mythe, die den Übertrag von Transzendenz zu Philosophie ermöglichte. Sie mag eine Tochter der Mater Larum sein, sie mag aber auch nur flüchtige Seele jener Puppen und Wachsfiguren gewesen sein, die man beim Fest der Laren-Mutter verwendete, als Ersatz für ein reales Menschenopfer. Sozusagen Spaltprodukt bei der Zähmung einer Muttergottheit, in der sich das Gütig-Nährende durchaus mit dem Zornig-Verschlingenden noch traf. Wer weiß das schon. Die Quellenlage ist dürftig, die Fantasieproduktion dafür umso üppiger.

Schöne Worte sagen ihr nichts

Aber aus der Mitte dieser kleinen, etwas missachteten Familie von Göttinnen, die es bemerkenswerterweise so sehr mit der Wahrheit hatten wie mit dem Schweigen, entstand ein Bild, das alles das überdauerte. Die Manie, das energetische, konzentrierte und unbedingte Verfolgen eines inneren Auftrags. Im Extrem: eine wahre Raserei. Vielleicht hat das eine historisch gesehen mit dem anderen gar nichts zu tun, sondern es verdankt sich die Übertragung bloß dem verwandten Klang der Worte, doch das tut wenig zur Sache. Entscheidend ist der Bedarf an einem Bild für ein (weibliches) Erscheinen einer aus sich selbst heraus wirkenden, das Opfer annehmenden und transformierenden, absoluten Wahrheit, die nicht mehr, wie das bei der Göttin-Mutter noch der Fall war, die Verdammung bedeutet, sondern den Weg zu einer Erlösung offen hält.

Von dieser Art ist auch jene Gruppe von christlichen Heiligen, die sich nicht allein mit der passiven Opferrolle, dem schweigenden Erleiden der größten Qualen begnügten. Im kollektiven Gedächtnis ist da vor allem die heilige Johanna geblieben, die vielleicht zu einem Synonym für eine ganze Reihe von „manischen Frauen“ im Dienst der Wahrheit wurde. Aber auch Johanna ist gespalten in die Figur der Gnade, wie Luc Besson sie einst beleuchtete, und der politischen Kämpferin, die auf der Leinwand aussehen kann wie Milla Jovovich. Die eine, die sich opfert (sacrifice), und die andere, die geopfert wird (victim). Beider Aktionen gehen über in die Anklage und das Zeichen. Nach dem Fanal der Manie kann niemand behaupten, er habe von nichts gewusst. Niemand kann sich auf ein Taktieren herausreden, die manische Frau hat ein Spiel der Männer unterbrochen.

Einer der journalistischen Vasallen des Donald Trump sprach von einem geistig behinderten Mädchen, was sogar in seinen Kreisen einen leichten Widerwillen auslöste. Auch andere, allgemeinere Reaktionen, wie Christian Lindners Ordnungsruf gegenüber den „Fridays for Future“-Kids, kommen bemerkenswert schlecht an, selbst in „konservativen“ Kreisen. Denn die Unterbrechung des Spiels, die Mania, Johanna, Greta bewirkten, das beständige Opfer der eigenen Kinder, der eigenen Zukunft, das zur Herrschaft alter weißer Männer gehört, hat das Reine an sich: Die Gewalt, die alte weiße Männer gegen sie imaginieren oder ausüben, führt unweigerlich zur Entlarvung ihrer schäbigen Herrschaft.

Wie nun hinlänglich bekannt, leidet Greta Thunberg unter dem Asperger-Syndrom. Oder genauer gesagt: Sie leidet eben nicht darunter.

Nach den Kriterien der ICD – International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (auf Deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der WHO sieht das Asperger-Syndrom so aus:

Diagnosekriterien des Aspberger-Syndroms

Normabweichung Es existiert keine klinisch bedeutsame allgemeine Verzögerung in der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder in der kognitiven Entwicklung. Die Diagnose verlangt, dass bis zum Alter von zwei Jahren oder früher einzelne Worte gesprochen werden können und dass bis zum Alter von drei Jahren oder früher kommunikative Sätze benutzt werden. Fähigkeiten zur Selbsthilfe, anpassungsfähiges Verhalten und Wissbegierde in Bezug auf das Umfeld sollten um das dritte Lebensjahr herum auf einem mit der normalen intellektuellen Entwicklung übereinstimmenden Niveau liegen.

Dennoch können motorische Meilensteine etwas verzögert sein, und die motorische Unbeholfenheit ist die Regel (obwohl kein notwendiges diagnostisches Merkmal). Es bestehen häufig einzelne spezielle Fertigkeiten, die sich meist auf abnorme Beschäftigung beziehen, aber sie sind für die Diagnose nicht relevant. Qualitative Abnormitäten in der wechselseitigen sozialen Interaktion zeigen sich in mindestens zwei der folgenden Merkmale: Unvermögen, einen angemessenen Blickkontakt herzustellen und aufrechtzuerhalten, Mängel in Mimik und Körperhaltung, Mängel in der Gestik zur Regulierung der sozialen Interaktion; Unvermögen (in einer dem geistigen Alter entsprechenden Weise oder trotz ausreichender Gelegenheiten), Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwickeln, die das Teilen von Interessen, Aktivitäten und Emotionen betreffen; Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer unzulänglichen oder von der Norm abweichenden Reaktion auf die Emotionen anderer Menschen zeigt; oder der Mangel an Verhaltensmodulation gemäß dem sozialen Kontext; oder eine geringe Integration der sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltensweisen; fehlender spontaner Wunsch, mit anderen Menschen Vergnügen, Interessen und Errungenschaften zu teilen (zum Beispiel mangelndes Interesse, anderen Menschen Gegenstände, die dem Betroffenen wichtig sind, herzubringen oder darauf hinzuweisen).

Der Betroffene legt ein ungewöhnlich starkes, sehr spezielles Interesse oder begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten an den Tag, die sich in mindestens einem der folgenden Bereiche manifestieren: einer konzentrierten Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessensmustern, die in Inhalt oder Gebiet abnorm sind; oder eine oder mehrere Interessen, die in ihrer Intensität und ihrer speziellen Natur, aber nicht in Inhalt oder Gebiet begrenzt sind; offenkundige zwanghafte Befolgung spezifischer, nonfunktionaler Routinen oder Rituale; stereotype und repetitive motorische Manierismen, die entweder das Flattern oder Drehen mit Händen oder Fingern oder komplexe Ganzkörperbewegungen mit einschließen; Beschäftigungen mit Teil-Objekten oder nonfunktionalen Elementen oder Spielmaterialien (...).

Doch kommt es seltener vor, dass diese Merkmale motorische Manierismen oder Beschäftigungen mit Teil-Objekten oder nonfunktionalen Elementen der Spielmaterialien einschließen. Die Störung ist den anderen Varianten der tiefgreifenden Entwicklungsstörung nicht zuzuschreiben, wie: einfache Schizophrenie, schizo-typische Störung, Zwangsstörung, anankastische Persönlichkeitsstörung.

(Quelle: asperger-kinder.de)

Greta Thunberg hat mithilfe ihrer Umgebung offensichtlich, wie man so sagt, das Beste aus der Disposition gemacht. Die Einschränkungen bei der Kommunikation auf emotionaler (und „körpersprachlicher“) Ebene werden durch Reflexion und Wissen kompensiert. Die manische Fixierung wird nicht auf eine Entleerung, sondern auf eine Fülle hin gerichtet, so wie es bei Künstlern und Wissenschaftlern der Fall ist. Ein scharfes Bewusstsein kontrolliert die Probleme der sozialen Kommunikation, um es mit einem Satz zu sagen: Eine „Störung“ wird in Stärke verwandelt, indem sie mit einem umfassenden Sinn gefüllt wird.

Populäre Mythologie

Alles in allem bietet Greta Thunberg also nicht das Bild einer Asperger-Kranken, sondern vielmehr das Bild eines Menschen, der mit dem Asperger-Syndrom gut umgehen kann, also viel weniger eine Krankengeschichte als ein Bild der heilsamen Diversität. Wer sagt denn, dass die bürgerliche Idealperson und das freudianische Modell der Seelenarchitektur auf ewig bestehen bleiben? Wer sagt, dass man „normal“ sein muss, um die Welt zu retten?

Zweifellos wird man die Einschränkungen der Kommunikation in eine Grammatik des Opfers übersetzen. Greta kämpft für eine Welt, der sie selbst nur bedingt angehört, sie kämpft für Menschen, die nicht Teil ihres Innenlebens werden können, sie liebt ein Dasein, ohne genau sagen zu können, was das ist, Liebe, sie ist bereit, jedes Opfer auf sich zu nehmen, ohne selber je ein Opfer von anderen Menschen annehmen zu können, sie kann nur die Welt lieben, weil sie nicht den einzelnen Menschen lieben kann, etc.

Aber all das ist auch ihre Stärke: Sie ist unempfindlich gegen Schmeicheleien, die emotionale Symbolsprache geht an ihr vorbei, es gibt vielleicht eine körperliche und eine geistige, aber keine affektive Erschöpfung, nichts, was nach landläufiger Meinung einen „normalen Teenager“ ablenken könnte, kann sie von ihrem Ziel abbringen. Wir können uns kaum vorstellen, dass Greta Thunberg noch etwas anderes ist als die Greta Thunberg, die wir als öffentliche Streiterin gegen die Untätigkeit und die Versäumnisse der „Erwachsenen“ kennen. Was für sie zählt, sind Handlungen, „schöne Worte“ sagen ihr nichts, und schließlich und endlich: Sie ist mehr als nur tapfer, sie ist furchtlos. Doch all das führt zu einem neuen Paradoxon: Je näher sie einer „Heilung“ kommt, desto eher verliert sie den Mania-Status. Zeigten sich denn nicht „ganz normale“ Gefühle von Stolz und Rührung beim UN-Klimagipfel in New York? Irgendwann wird Greta nicht mehr die Greta sein, und die Paradoxien werden sich umkehren.

Es wird vermutlich niemand sich ganz des Empfindens erwehren können: Dieses großartige Kind ist auch unheimlich. Wenn sie sagt, die Politiker / Erwachsenen hätten sie um ihre Kindheit gebracht, ist das eine ambivalente Aussage. Wenn sie für das Recht auf eine Kindheit kämpft, in der Zuversicht und Gewissheit einer Zukunft scheinen, ist nicht ganz klar, inwieweit sie selber überhaupt zu einer solchen Kindheit fähig gewesen wäre. Kurzum: Es scheint da etwas zwischen Ich und Selbst zu liegen, was im Normalfall eher aufgelöst, unscharf, pragmatisch agiert. Wie jede Heilige stellt Greta Thunberg genau das dar, was sie nicht ist. Aber, und das unterscheidet eine Heilige, sagen wir, von einem Dämon oder von einem Roboter (jedenfalls denen der Asimov-Klasse): Sie fühlt das Fehlende in sich. Sie hat ein Bewusstsein dieses Fehlenden. Um zu geben, was sie nicht hat, muss sie die Welt als Resonanz- und Produktionsraum benutzen. So entsteht eine revolutionäre Energie.

Greta Thunberg also trägt die Züge einer Heiligen, eines beeinträchtigten, aber dennoch selbstbestimmten Menschen – und vielleicht sogar die eines kommenden Menschen, der von Einsicht und Entschlossenheit mehr geprägt ist als von Begehren und Angst.

Aber zugleich spukt hier auch noch ein anderes Bild: das eines mühsam gebändigten, jederzeit zur Eruption oder zum Zusammenbruch fähigen, rebellisch-bösen, pädagogisch möglicherweise gegen Versprechungen und gute Worte immunen, „systemsprengenden“, uneinsichtigen Kindes. Die andere Seite der Mania. Nicht Tom Sawyer oder Pippi Langstrumpf. Eher das „problem child, das die Neugier von Exorzisten und Sonderpädagogen erweckt.

Die Erscheinungsweise des bösen Kindes (des besessenen, des zerstörerischen) in der populären Mythologie, wie wir sie aus der Literatur, den Filmen und Comics kennen (böse Kinder haben rhythmisch Konjunktur in Genres wie Horror, Thriller und Melodram), lässt sich optisch rasch zusammenfassen:

Eine maskenhafte Starrheit, bei der der Blick weniger sieht als bannt und bei dem jedes Lächeln leicht als Bedrohung erscheinen kann. Verzögerte Reaktionen, so als solle das fließende Reiz/Reaktionsschema durchbrochen werden. Ein grimmiger Blick, der in der traditionellen Mimik auf Trotz und Widerstand schließen ließe. Die leicht gesenkte Kopfhaltung. Eine Vorliebe für immer gleiche Gesten und sogar immer gleiche Kleidung. Die Unmöglichkeit zur Entspannung, zur Selbstverlorenheit, zum Glück, der Zufriedenheit. Unlesbarkeit oder Maskierung von Gefühlsregungen. Die Fixierung. Das verborgene Innenleben. Das glücklose Lächeln. Die Unbeirrbarkeit, als läge ein Panzer um die Person. Die Abwesenheit oder Fehlentwicklung innerer Instanzen, wie direktes Mitleid. Eine Aura der Kälte.

Und was will das böse Kind? Es will vor allem die Stelle des guten Kindes einnehmen, es will die Ordnungen stören, es bringt mit der Hierarchie (den Autoritäten) die Stabilität von Zeit und Ort in Gefahr, es vernichtet den „Glauben“, der alles zusammenhält. Der Hass der guten Gesellschaft auf das böse Kind, mag er sich auch als Mitleid tarnen, ist nahezu grenzenlos. Das Böseste am bösen Kind ist, dass es die Kommunikations- und Schweigegebote der Erwachsenen durchschaut.

Vieles von diesen ikonografischen Zuschreibungen des „bösen Kindes“ trifft allerdings auch auf die bösen alten weißen Männer zu, denen Greta Thunberg den Kampf angesagt hat. Sehen wir nicht in Donald Trump, in Boris Johnson, in Alice Weidel, in Silvio Berlusconi, in Matteo Salvini, in Björn Höcke bei näherem Hinsehen genau diese tückischen Kinder, die ihr, nun eben, manisches Spiel treiben? Und wurden nicht viele dieser Führerinnen und Führer, Ferndiagnosen hin oder her, mit dem Signum der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ belegt? Auch hier hilft die ICD: eine Persönlichkeitsstörung, die durch oberflächliche und labile Affektivität, Dramatisierung, einen theatralischen, übertriebenen Ausdruck von Gefühlen, durch Suggestibilität, Egozentrik, Genusssucht, Mangel an Rücksichtnahme, erhöhte Kränkbarkeit und ein dauerndes Verlangen nach Anerkennung, äußeren Reizen und Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist. Und dieses Syndrom beinhaltet ausdrücklich die „infantile Persönlichkeitsstörung“. Das gestörte Kind, das seine Störung überwindet, indem es sie in den Dienst der „Heilung“ stellt, trifft auf Erwachsene, die das gestörte Kind in sich nur bändigen können, indem sie ihm etwas zum Zerstören geben.

... Es war einmal ein gestörtes und verstörtes Kind, das erwachsen sein musste, nicht nur vor der Zeit, sondern durch eigene Arbeit und durch eigenen Mut, gegen eine innere Abweichung von einer Normalität, die es längst nicht mehr gibt und die es in der Zukunft noch weniger geben wird. Und es musste aufstehen und die Stimme erheben gegen ein System der gestörten und verstörten Kinder, die scheinbar zu Erwachsenen geworden waren und aus ihrer Störung etwas ganz anderes machten: Statt die Störung der Welt zu beheben, machten sie ihre Störung zur Welt.

Viele Kinder folgten nicht mehr den infantilen alten weißen Männern, sondern dem unglücklich erwachsenen jungen Mädchen, und auch sie lebten nicht zuletzt von ihrer reinen Manie, ihrer unfreiwilligen Heiligkeit. Doch sie waren keine Heiligen. Sie waren normale Teenager. Verwundbar. Ablenkbar. Verängstigbar. Das Glück ihrer Unschuld, der Überraschungseffekt für eine Gesellschaft, die sich und ihre Zukunft schon verloren gegeben hatte, kurz die Manie, die sich bemerkbar machte auch bei den Statthaltern der alten müden Demokratie, der kurze Glaube an eine Möglichkeit, wenn nicht der Rettung, so doch des Überwindens der fatalistisch-hedonistischen Lähmung, das musste sich nun sehr praktisch bewähren, als die alten weißen Männer, die in Wahrheit gestörte Kinder geblieben waren, sich zum Gegenschlag rüsteten und ihre Schulleiter, ihre Polizei, ihre „Journalisten“ von der Leine ließen. „How dare You?“ hatte Greta noch gefragt. Manisch genug. Nun erfolgte das Echo: How We dare! Und die alten weißen Männer wussten, dass sie nicht nur von einem sonderbaren, furchtlosen Mädchen in Frage gestellt werden. Sondern von der Generation, die sie zu opfern bereit waren.

Von Georg Seeßlen erschien zuletzt: Liebe und Sex im 21. Jahrhundert: Streifzüge durch die populäre Kultur (Sexual Politics)

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