An das demokratische Versprechen als Freundin und Helfer glaubt im Ernst derzeit niemand mehr: Es läuft etwas schief im Verhältnis von Polizei und demokratischer Zivilgesellschaft. Und so sehr diese Vertrauenskrise auf größere Probleme verweist als auf allfällige Skandale von „Einzelfällen“, so symptomatisch erscheint die Unfähigkeit der politischen Öffentlichkeit, systematisch über eine Krise und mögliche Lösungen zu sprechen. Vielleicht weil ein genauerer Blick auf die Polizei auch einen genaueren Blick auf die Gesellschaft bedeuten würde. Und vielleicht auch, weil eine entscheidende Frage ungeklärt scheint: Ist die Polizei noch eine demokratische Institution – oder ist sie schon Instrument nationaler Identität? Denn je weniger Konsens es über die Werte einer Gesellschaft gibt, desto heftiger wird der Druck, Polizei zur Bewahrerin eines politischen Systems, zum Instrument einer bestimmten Politik zu machen.
Der ursprüngliche Begriff der „polizey“ bedeutete zunächst nichts anderes als eine funktionierende (Wirtschafts-)Ordnung. Polizei ist die Grundlage für die Entwicklung von Kapitalismus und Demokratie. Nach und nach ging der Begriff auf die Instanz über, die eine solche Ordnung überwachen und bestimmen kann; sie war ein Instrument der Revolutionen und Konterrevolutionen geworden, das moderne Instrument der Regierung, das von Anbeginn an auch benutzt wurde, die „öffentliche Ordnung“ nicht nur vor Kriminellen und Verrückten zu schützen, sondern auch gegen Oppositionen vorzugehen, Aufstände zu unterdrücken, Konspirationen aufzudecken, den Besitz der Besitzenden zu schützen und den Willen der Regierenden durchzusetzen. Von Anbeginn des modernen Staates, der ohne Polizei nicht denkbar ist, stellten sich demnach zwei Fragen: Wie viel Demokratie verträgt die Polizei? Und wie viel Polizei verträgt die Demokratie?
Sie sortiert Menschen
Ein guter demokratischer Staat hat eine gute demokratische Polizei. Das wäre das Ideal. Demokratisch wäre dann nicht allein die Biografie (fast) aller Polizist*innen, demokratisch wäre auch die „Kultur“ der Polizei, ihre Sprache, ihre Diskurse, ihre Erscheinungsbilder, ihr Verhalten, und demokratisch wäre schließlich auch die Struktur der Polizei: Organisationsform, rechtlicher Rahmen, politische Kontrolle, gesellschaftliche Funktion.
Von alledem sind wir im Augenblick weit entfernt. Nicht nur hierzulande, sondern, wie es scheint, in nahezu allen Staaten des nicht mehr gar so goldenen Westens. Die Vertrauenskrise zwischen dem gesellschaftlichen Subsystem namens Polizei und der demokratischen Zivilgesellschaft ist ein Teil der Krise der Demokratie, und die Krise der Demokratie produziert wiederum eine Vertrauenskrise zwischen Gesellschaft und exekutiver Macht.
Dieses Vertrauen freilich war immer prekär. Denn die Polizei ist eine Einrichtung innerhalb der Demokratie, die selber nicht vollständig in ihr aufgeht. Sie ist sozusagen eine Institution des Ausnahmezustands. Dort, wo Polizei eingreift, ist nicht die Ordnung, sondern ihre Störung am Werk. Das eben aber heißt auch, dass polizeiliches Eingreifen definiert, was Ordnung und was Störung ist. Die Ordnung der Gesellschaft leidet daher nicht nur an Orten, wo Polizei eingreift, sondern auch an Orten, wo sie es nicht tut. Dass die demokratische Zivilgesellschaft „ihrer“ Polizei nicht mehr so recht vertraut, liegt nicht nur an den skandalösen Übergriffen und geheimen anti-demokratischen Netzwerken allein, sondern genauso an der Erfahrung, dass Polizei bestimmte Menschen gerade nicht schützt. Erst aus dem seriellen Zugriff auf der einen und dem strukturierten Wegschauen auf der anderen Seite wird eine gefährliche politische Grammatik.
Ein Maßstab dafür, wie demokratisch und aufklärerisch-humanistisch Polizei wirkt, ist ihre Beziehung zum „Sündenbock“, wie ihn René Girard beschrieben hat. Verfolgung und „Opferung“ von solchen menschlichen Sündenböcken schreibt Girard dem „Zusammenbruch kultureller Systeme“ zu. Schützt die Polizei den Sündenbock oder nimmt sie gar an der Jagd auf ihn teil? Die Frage ist entscheidend für den zivilisierenden oder barbarisierenden Effekt, den Polizei auf eine Gesellschaft hat.
In dieser fatalen Grammatik ist also, noch vor allen persönlichen Verfehlungen, das Grundproblem einer Polizei-Krise zu sehen. Es werden – vor dem Hintergrund eines demokratischen, liberalen und humanistischen Grundkonsenses – die falschen Menschen durch Polizei bedroht, die falschen Menschen von der Polizei alleingelassen. Denn es ist Polizei, die primär darüber bestimmt, wer in den Kreis der Opfer, wer in den Kreis der Täter, der Zeugen, der „Verdächtigen“ gehört. In der Wirklichkeit vollzieht sich dieses Sortieren keineswegs so vernünftig wie in unserem Fernsehkrimi, in dem wir daran gewöhnt werden, dass Polizist*innen kleine Rechtsverstöße und Korruptionen erlaubt sind, weil sie so prinzipiell zu den Guten gehören.
Das Gewaltmonopol der Polizei ist zweifellos ein zivilisatorischer Gewinn, und es ist zugleich ein Stachel im Fleisch der Demokratie. Denn es kann niemals vollständig demokratisch kontrolliert werden, weil (auch das wissen wir aus unserem unendlich laufenden Polizeifilm) sonst die Effektivität ihrer Arbeit litte. Als Instrument der Demokratie kann die Polizei nur funktionieren, indem sie selber ihrer Demokratisierung Grenzen setzt, was sie stets zugleich zu einem potenziellen Instrument der Anti-Demokratie macht. Die Funktion der Polizei bei der nationalsozialistischen Machtübernahme sollte in unserem kollektiven Gedächtnis eine stete Mahnung sein. Aber offenbar sehen wir die politische Gefahr der Polizei immer nur in Staaten, denen wir nicht wohlgesinnt sein müssen. Dass sich Polizei in Deutschland verhalten könnte wie in Belarus? Undenkbar. Oder in Washington? Äh …
Die Polizei ist ein Teil der Macht, der in der exekutiven Praxis weder „neutral“ sein kann noch in sich die Möglichkeit aufgebaut hat, sich der Instrumentalisierung durch anti-demokratische Kräfte zu widersetzen. (Was bleibt, ist natürlich immer noch das Gewissen des einzelnen Menschen.) „Leicht ist die Arbeit eines Polizisten nur in einem Polizeistaat“, so heißt es in einem amerikanischen Polizeifilm, und das gibt dem demokratischen Polizisten die Würde in seiner harten Arbeit zurück.
Solange es einen allgemeinen Konsens, eine gemeinsame Grundlage von Werten, Interessen und Verhaltensweisen gibt, ist es vergleichsweise einfach zu sagen: Die Polizei schützt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und ahndet Verstöße gegen sie, indem sie die Gesetzesbrecher der unabhängigen Justiz übergibt. Schon da beginnen nun die Reibereien: Die zwei Systeme zum Schutz der Rechte der Bürgerinnen und Bürger arbeiten sehr häufig auch gegeneinander. Und beide Systeme wiederum sind nicht vollständig auf die moralischen Diskurse der Öffentlichkeit bezogen. Demokratie heißt nun nicht, die Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen gewaltsam aufzulösen, wie es in einer Diktatur der Fall zu sein pflegt, sondern sie beständig zu bearbeiten – statt sie unter den Tisch zu kehren oder sie zu Einzelfällen zu skandalisieren.
Wie es scheint, gibt es nun diesen allgemeinen Konsens der Demokratie nicht mehr. Ein Viertel der deutschen Bevölkerung lehnt, nach Wahlergebnissen, Umfragen und Verhaltensweisen zu urteilen, den demokratischen Staat und die liberale Gesellschaft rundherum ab, ein großer Teil der Gesellschaft verhält sich diesem Druck gegenüber passiv bis opportunistisch, die politischen Parteien und die veröffentlichte Meinung in den Medien eingeschlossen.
Macht über Leben und Tod
Woran also, so mag sich der eine oder die andere im Dienst der Polizei fragen, bin ich gebunden, wem oder was „wirklich“ verpflichtet? Ist nicht der Entschluss, der einen Seite zu dienen, Verrat an der anderen? Die Gesellschaften des Westens haben sich noch nicht entschlossen, welchen Weg sie weiter gehen, den des anti-demokratischen Rechtspopulismus, den der demokratischen Zivilgesellschaft oder irgendwas dazwischen. Wie also sollten sich Polizist*innen eindeutig verhalten, wo sich doch ihre beiden „Dienstherren“, nämlich die Regierung und „das Volk“, selber so wenig eindeutig verhalten?
Stellen wir uns vor, und in den USA ist dies ja nicht so abwegig, demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften ständen „bürgerkriegsähnliche Zustände“ bevor. Dann existiert keine neutrale Polizei mehr, sie wird entweder zum Instrument der einen oder der anderen Seite, oder sie selbst spaltet sich: in Polizisten, die im Namen von „Black Lives Matter“ niederknien, und andere, die ihre Waffen auf die Demonstrierenden richten. Eine sich auf diese Weise spaltende Gesellschaft riskiert es, ihre Polizei zu einer Bürgerkriegsarmee zu machen – und die faschistischen Gruppierungen in der Polizei, von denen nun einige aufgeflogen sind, haben ihre Wahl vorauseilend getroffen: als Brückenkopf für einen faschistischen Polizeistaat, der verspricht, ihre Arbeit leicht zu machen.
Die Polizei ist ein politisches Instrument. Kein Diktator, kein Tyrann, kein Autokrat könnte regieren ohne „seine“ Polizei, aber auch eine Demokratie wäre rasch am Ende, wenn sie keine Waffe gegen innere Feinde und Widersprüche hätte. Demokratie heißt nicht, die Polizei zu entpolitisieren, Demokratie heißt, der Beziehung von Polizei und Politik ein Bewusstsein zu geben.
Dies aber funktionierte schon in einer halbwegs einigen Gesellschaft in einer halbwegs funktionierenden Demokratie eher schlecht als recht. Was sich in der Praxis als „Korpsgeist“ zeigt, erfasst selbst Menschen, die von sich aus besten Willens wären, ihren Dienst nach ihrem Eid auf die demokratische Verfassung und nach Gewissensentscheidungen zu verrichten; es ist im Kern Ausdruck eines in sich widersprüchlichen Instruments der Macht, das sich sofort ändert, wenn sich diese Macht ändert. Mögen es dieselben Polizistinnen sein: die US-amerikanische Polizei ist unter Trump eine andere als unter Obama. Das Instrument wird anders benutzt.
Auch in unserem Land wird Polizei in der Wendung zum Populismus anders benutzt als zuvor; sie wird von Krise zu Krise, von Banken- über Migrations- und Pandemie- bis zur Klima-Krise, immer mehr gegen als für Menschen eingesetzt. Was macht es mit Polizist*innen, wenn sie Familien mit Gewalt zur „Abschiebung“ führen müssen, zurück in Gewalt und Tod, und was macht das mit uns? Entweder der Polizist, die Polizistin sagt, man tue nur seinen Job, akzeptiert also, das Instrument ohne das Recht auf Frage nach Begründung und Auswirkung seiner Arbeit zu sein. Oder man identifiziert sich mit dem Vorgang, ist Teil einer Macht über Leben und Tod, die sich jenseits der Mitmenschlichkeit gestellt hat. Hier wird Polizei zum Instrument einer Politik. Und je größer die gesellschaftliche Spaltung, je umstrittener moralische Fragen, desto heftiger wird dieser Druck. Am Ende kommt die politische Perversion beim Einzelnen an und kann sozial, moralisch, psychisch krank machen. Gerade in der Krise muss die Polizei als Institution verändert werden – mit den Polizistinnen und Polizisten, und nicht gegen sie.
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