Kino Viele Darsteller haben die Figur des legendären Kommissar Maigret von George Simenon bereits verkörpert. Mit Gérard Depardieu unter der Regie von Patrice Leconte kommt es nun zu einem französischen Gipfeltreffen
Es gibt Ermittlungen, zu denen trinkt man ein Bier, erklärt er, andere begleitet besser ein Calvados. Aber dies hier, fährt der Kommissar fort, ist eine Weißwein-Ermittlung.
Gewiss, in seinem Metier bedürfen Leib und Gemüt gelegentlich einer Stärkung. Aber für Jules Maigret ist dies auch eine Frage der Lebensart. Im Bistro lässt sich ebenso gut ermitteln wie am Tatort oder auf dem Kommissariat, wenn man es versteht, das Alltägliche zu entziffern.
Der Mord an einer jungen Unbekannten verlangt also nach der mineralischen Klarheit eines kleinen Weißen. Allerdings schlägt ihm dieser Fall auf den Magen: Der Kommissar, den sein Publikum und nicht zuletzt Madame Maigret als dankbaren Genussmenschen schätzen, leidet an Appetitlosigkeit. Er
titlosigkeit. Er ist, das war schon bei Georges Simenon so, eine Figur, die sich vom Körperlichen her erzählen lässt.Patrice Lecontes Maigret folgt diesem Prinzip von der ersten Sekunde an. Die Vorspanntitel wechseln sich flott mit Einstellungen ab, die den Kommissar beim Arztbesuch zeigen. Der Patient klagt über Müdigkeit und innere Unruhe. Das Treppensteigen fällt ihm schwer. In der Tat, seine Bronchien bereiten dem Arzt Sorgen. Den Tabak untersagt er ihm strikt. Fortan muss Maigret sich damit begnügen, seinen Assistenten Janvier im Pfeifenrauchen zu unterweisen. Er tut es mit der ihm eigenen Sorgfalt, seine Lippen imitieren das „Puck, Puck“, mit dem die Glut angezogen wird, und er ermahnt Janvier, den Pfeifenkopf nach dem Rauchen nicht zu heftig auszuklopfen, damit dessen Holz keinen Schaden nimmt. Dieser Maigret ist also einem seiner drei unverzichtbaren Attribute beraubt; nur Hut und Mantel bleiben ihm. Wie er sich nun fühle, fragt der Arzt später den Abstinenten. „Nackt“, erwidert dieser knapp.Dennoch erklimmt er mit stoischer Ruhe die Treppen der Mietshäuser, in die ihn seine Ermittlungen verschlagen. Das war in Maigrets früheren Kinoauftritten stets ein Grund zur Klage. Die Morde wurden unweigerlich in den oberen Stockwerken begangen, und wenn es überhaupt je einen Fahrstuhl gab, war er mit Sicherheit defekt. Aber Maigret, dem Gérard Depardieu seine imposante Leibesfülle und die damit einhergehende Kurzatmigkeit verleiht, beschwert sich nicht. Dieser Fall ist ihm alle Mühen wert.Behäbigkeit als MethodeJung war der Kommissar auf der Leinwand und im Fernsehen nie. Stets sind seine Gewohnheiten und Methoden vollends ausgebildet. Er nimmt seine Ermittlungen als eine Bastion der Reife und Besonnenheit auf. Alles hat er schon gesehen und erlebt, jede Spielart menschlicher Verworfenheit ist ihm vertraut. Die Schleifspuren der Routine sind unverkennbar, aber immer gibt es einen Moment, in dem er den Panzer der Trägheit abwirft und plötzlich hellwach ist. Trotz all seiner Erfahrung kann er immer noch eine neue sammeln. Das Scheitern ist eine Option, die er ernsthaft ins Auge fasst. Er ist nicht unempfänglich für den Druck, den seine Vorgesetzten ausüben. Aber letztlich drosselt er das Tempo, bis es seinem Temperament entspricht.Denn die eigene Behäbigkeit gehört zu seiner Methode: Sie ist Eigenschaft und List zugleich. Seine Geduld scheint fahrlässig. Er mag dringend Verdächtige freilassen oder den wahren Täter an einer langen Leine halten, aber locker lässt Kommissar Maigret nie.Diese dynamische Gemächlichkeit macht ihn zu einem Gewährsmann des seriellen Erzählens. Simenon ließ ihn in 75 Romanen und 28 Kurzgeschichten auftreten. Dem französischen Kino ist er seit gut sechs Jahrzehnten abhandengekommen, stattdessen führte er weltweit ein reiches Leben im Fernsehen: Er erlebte Inkarnationen in Italien, Japan und der Sowjetunion, ging in den Niederlanden und Frankreich zweimal in Serie, in Großbritannien gleich dreimal.Eingebetteter MedieninhaltSein erster Darsteller in den BBC-Adaptionen, der Brite Rupert Davies, fegte in den 1960er Jahren auch hierzulande die Straßen leer. (Es gehört zu den prägenden Seherfahrungen meiner Kindheit, wie die ganze Familie sich vor dem Bildschirm versammelte, um ihm beim Lösen eines neuen Falles zuzuschauen.) Selbst Simenon, der die Rechte an seinen Büchern teuer verkaufte und selten ein gutes Haar an ihren Adaptionen ließ, schätzte Davies; im Gegensatz zu Jean Richard, der im folgenden Jahrzehnt fürs französische Fernsehen die Rolle übernahm. Dessen Nachfolger Bruno Cremer war in den 90ern ein exzellenter Maigret, der seine massive physische Präsenz mit widerständiger Verwundbarkeit paarte. Der Komiker Rowan Atkinson erwies sich unlängst in einer britischen Neuadaption als ein unverhofft brillanter Besetzungscoup und lieferte Kabinettstücke eines zurückgenommenen Spiels, das diskret eine Ahnung vermittelt von dem inneren Tumult, den der Kommissar zu bezähmen weiß.Angelegt als FortsetzungUnter den frühen Tonfilmdarstellern schätzte Simenon vor allem Pierre Renoir, der 1932 unter der Regie seines Bruders Jean in Die Nacht an der Kreuzung auftrat: Renoir habe begriffen, dass Maigret im Kern ein Beamter sei. Noch herausragender war indes Harry Baur, dessen Einfühlungsvermögen in Maigret – Um eines Mannes Kopf (1933) so weit geht, dass er Tränen vergießt. Von den 1940er Jahren an war der Kommissar auch im Kino auf Fortsetzung angelegt. Dreimal verkörperte ihn während der deutschen Okkupation der Komödiant Albert Préjean, der einen flotten, kecken, exzentrischen Maigret gab, der auch zu schockierenden Gewaltausbrüchen fähig war. Ende der 1950er Jahre machte sich dann Jean Gabin die Figur in Maigret stellt eine Falle zu eigen. Die tückisch behagliche Bonhomie des Kommissars rieb sich noch in zwei weiteren Filmen mit dem Temperament des legendären Schauspielers, der zwar in die Jahre gekommen war, in seinen Verträgen aber immer noch auf wenigstens einen Wutausbruch pro Film bestand.Auch im Falle Depardieus begegnen sich nun zwei zentrale Mythen des französischen Kinos. Das scheint unausweichlich, nachdem der Schauspieler schon beinahe sämtliche Institutionen der französischen Literatur verkörpert hat. Der schlichte Titel von Lecontes Film betont das Ikonische dieser Figur; er klingt wie eine Essenz. Leconte und sein Co-Autor Jérôme Tonnerre übernehmen vom Roman nur die Ausgangssituation, um dann das Archetypische der Figur Simenons herauszuarbeiten. Depardieu verkörpert sie mit jener Demut, die er in seinen Altersrollen immer wieder überraschend entwickeln kann.Zunächst gibt die Identität einer jungen Frau, deren Leichnam gefunden wurde, Rätsel auf. Ein erster Anhaltspunkt ist, wie so oft für Maigret, ein Kleidungsstück. Die Unbekannte trug eine elegante Abendrobe, die aus einer vergangenen Epoche stammt. Langsam tastet Maigret sich voran. Er setzt ein Bild zusammen, zuerst des Opfers, das im gleichen Alter wie seine verstorbene Tochter ist. Die Identifikation mit ihr ist stark, die Montage unterstreicht es überdeutlich. Aber Depardieu löst seinen Maigret aus der persönlichen Befangenheit. Er will verstehen, wie es so weit kam. Zwei weitere junge Frauen kreuzen seinen Weg, die eine will er beschützen, die andere vielleicht überführen.Der Kreis der Verdächtigen ist bald eingegrenzt, aber Lösung und Moral bleiben vorerst im Wartestand. Simenons Figur, das begreifen Depardieu und Leconte, ist ein achtsamer Verwerter des Menschlichen, weil sie nicht urteilt, sondern die Schicksale wieder einrenken will.Placeholder infobox-1
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