Für zwei Dollar weniger

Film Als 91-Jähriger muss man niemandem mehr etwas beweisen – erst recht nicht, wenn man Clint Eastwood heißt
Ausgabe 42/2021

Mike Milo (Clint Eastwood) ist ein Mensch, der sich die Privilegien herausnimmt, die ihm sein Alter zugesteht. Nach dem reichhaltigen Mittagessen, das ihm und dem jungen Rafo (Eduardo Minett) in dem freundlichen Café irgendwo in Mexiko angeboten wurde, ist erst einmal Zeit für eine Siesta. Als er danach aufwacht, muss der Junge das Kompliment übersetzen, das ihm die patente Wirtin (Natalia Traven) macht. Er habe nicht geschnarcht, sagt sie, das gefiele ihr.

Aus ihrem Lob spricht keine Genügsamkeit, sondern eine amüsierte Reife. Sie hat im Leben viel erlebt, vielleicht nicht ganz so viel wie Mike, aber genug, um zu wissen, dass manchmal eine Nebensächlichkeit ausreicht, um sich ein Urteil über einen Fremden zu bilden.

Ganz so leicht ist das im Fall des ausrangierten Rodeo-Champions Mike nicht. Den Auftrag, den der Texaner für seinen früheren Chef in Mexiko erledigen soll, könnte man Kidnapping nennen. Er soll dessen Sohn Rafo aus den Fängen der Mutter befreien. Das ist für einen rüstigen Greis keine unmögliche Aufgabe, es braucht ein wenig Menschenkenntnis und Kombinationsgabe. Rafo ist rasch gefunden und bereit, seinem jetzigen Leben zu entkommen. Die Aussicht, in Texas ein echter Cowboy zu werden, lockt ihn.

Gemächliches Abenteuer

Das ungleiche Gespann begibt sich auf eine zweifache und kuriose Heldenreise. Die Gefahren, die auf ihr lauern, lassen sich mit dem Elan meistern, den ein alter Mann noch aufbringen kann. Es ist ein gemächliches Abenteuer; mitunter genügt es schon, einfach abzubiegen, um Verfolgern zu entwischen. Wichtiger ist, dass die zwei sich näherkommen. Manchmal sind ihre Gespräche ein Duell, der Junge wirft ihm vor, dass seine Lebenskraft erloschen sei. Der Hahn Macho, den Rafo aufgepäppelt hat und mit dem er zahlreiche Hahnenkämpfe gewonnen hat, dient ihm als Vorbild der Stärke. Ob der längst ausrangierte Rodeo-Champion Mike Nostalgie für seine große, glorreiche Zeit empfindet, ist eine Frage, die der Film nicht eindeutig beantworten will. So ist das mit Eastwood-Figuren, sie räumen Versäumnisse in ihrem Leben ein, aber behalten den Rest für sich. Lieber schauen sie nach vorn, nehmen den nächsten Tag in Angriff.

Cry Macho könnte von lauter letzten Dingen handeln, aber sein Regisseur zieht es vor, von vorletzten zu erzählen. Er besitzt die Gelassenheit dazu. Als 91-Jähriger muss man niemandem mehr etwas beweisen; allenfalls sich selbst. Sein filmischer Kosmos ist längst in alle erdenklichen Richtungen vermessen. Er ist eine Legende, die nicht zur Ruhe kommen will. Sein Mandat ist die kontinuierliche Neuerfindung: voller ästhetischer und ideologischer Kehrtwendungen.

Seit drei Jahrzehnten arbeitet er inzwischen an seinem Spätwerk, seit in dem Western Erbarmungslos endlich jene Schwärze des Zweifels auf den Plan trat, die lange in ihm verborgen war. Von nun an besaß er die Besonnenheit, sein eigenes Image und die Mythen eines ganzen Genres einer radikalen Revision zu unterziehen. Fortan war in seinem Kino Platz für Abbitte und Buße. Die Selbstironie allein genügte nicht mehr. Mit einem Mal gewannen seine Filme Oscars – er nahm sie würdig und bescheiden an, dankte 1993 zuallererst seiner erfreulich rüstigen Mutter –, sein Name versprach Prestige und nicht nur volle Kinokassen. Er wagte sich an große, schwierige Themen und setzte sie mit erhabener Professionalität um. Diese Effizienz, die ihn regelmäßig Budgets und Drehpläne unterschreiten ließ (auch Cry Macho wurde einen Tag früher fertig), festigte seine Legende. Als ein Klassizist, dessen anarchische Impulse eingehegt werden konnten, war er eine einzigartige Figur der Kontinuität.

Das Individuum blieb dabei für Eastwood stets die höchste erzählerische Instanz. Die Spannung, wann seine Helden ihre Autarkie aufgeben würden, transportierte er in Million Dollar Baby und Gran Torino (2009) schlüssig in die Gegenwart. Mit dem Alter wuchs seinen Figuren eine glaubhafte Aura von Fürsorge zu, die einherging mit der Einsicht, dass die eigene Lebenshaltung den Zeitläuften angepasst werden sollte. Sie lernten, einen neuen Generationenvertrag zu schließen und gesellschaftliche Diversität auszuhalten. Das neue Amerika würde zwar nie mehr das Ihre sein, aber das konnten sie hinnehmen. In diesem Licht betrachtet, geriet The Mule 2018 zu seinem ersten Alterswerk als Actor-director. Der Drogen schmuggelnde Rentner Earl nahm sich die Freiheiten heraus, die ihm jene neue Toleranz zugestehen musste, die in den USA mitunter schwer von Gleichgültigkeit zu unterscheiden ist.

Im neuen Jahrtausend steckte er den erzählerischen Radius seines Kinos neu ab. Seine Filmografie wurde zu einem staunenswerten Register intuitiver Flexibilität. Er drehte eine kuriose Meditation über Verlust und Transzendenz (Hereafter), die man als Suchbewegung nicht missen mochte. Mit dem Juke-Box-Musical Jersey Boys wiederum eroberte er sich souverän neues Terrain. Der Jazzliebhaber Eastwood fand Geschmack am Pop von Frankie Valli and the Four Seasons und setzte die Karriere der Band als vielstimmige Moritat über Herkunft, Treue und dem Verrat, der mit dem Ruhm einhergehen kann, in Szene. Die Biografie des FBI-Chefs J. Edgar Hoover erzählte er als assoziative Verfallsgeschichte.

Das waren Etüden der Vielseitigkeit, die ihn ungekannte Muskelpartien trainieren ließen, aber doch einer übergeordneten Konsequenz folgten: Fast alle seiner letzten Regiearbeiten beruhten auf wahren Geschichten. Sie waren ergebnisoffene Erkundungen von Handwerk und Heldentum. Letzteres stellte er vielfach zur Disposition: Er fand es in seinem Diptychon über die Schlacht von Iwo Jima auf beiden kriegsführenden Seiten vor; es geriet nachträglich in Verruf (Sully, Der Fall Richard Jewell); es war eine Heimsuchung (der Scharfschütze in American Sniper trägt den Krieg nach Hause) oder die Konsequenz von unreflektierter biografischer Kränkung und Waffenbegeisterung (15:17 to Paris, wo die Verhinderer des islamistischen Attentats roboterhaft sich selbst verkörperten). Zum alten, ungebrochenen Triumphalismus kehrt er in Invictus zurück (allerdings aufgeklärter als zuvor), wo Nelson Mandela sein zerrissenes Land einte, indem er Versöhnung an die Stelle von Vergeltung setzte.

Mit Cry Macho scheint diese Epoche der Experimente vorüber, aber er hört nicht auf, sich und seinen Figuren wissbegierig Fragen nach Legitimation und Aufrichtigkeit zu stellen. Die Ambivalenzen sind nicht getilgt, jeder hat seine Gründe, die durchaus widersprüchlich und „unrein“ sein können. Das verleiht dem Drehbuch stellenweise eine heikle Unwucht. Zu gegebener Zeit möchte der Film seine Handlung hinter sich lassen, den Auftrag zurückstellen, der Mike und Rafo zusammengeführt hat. Als sie nach einer Autopanne in einem kleinen Dorf stranden, bietet sich die Gelegenheit, sie schlicht in einem Alltag zu zeigen, der sie zur Ruhe lassen kommt und ihnen neue Perspektiven aufzeigt. Hier wird Cry Macho beinahe zu einem Remake seines ersten Meisterwerks als Regisseur, des Bürgerkriegswesterns The Outlaw Josey Wales (Der Texaner); nur ohne den früheren Zorn: Mike ist ein Witwer wie Josey, um den sich unversehens eine neue Familie schart.

Mit der Reise nach Mexiko wird keine Grenze zur Barbarei überschritten (gewiss, es herrscht sachte Korruption), sondern Eastwood setzt dem Klischeebild ein Idyll des gewachsenen und zugleich neu entstehenden Gemeinschaftssinns entgegen. Die Zeichnung der mexikanischen ProtagonistInnen mag man naiv finden. Dergleichen kann in Spätwerken passieren, siehe John Ford, Howards Hawks oder Akira Kurosawa, wo das Vertraute mit gröberen Pinselstrichen ausgemalt wird. Aber die Idee einer neuen Heimat, in der durchaus ein Gefühl der Kränkung durch den Nachbarn USA herrscht, ist für den Gringo nachvollziehbar verlockend. Ihre Exotik muss bald nicht mehr fremd sein. Mike fügt sich in dieses Klima belastbaren Wohlwollens, er verdient sich seinen Platz in ihm, macht sich nützlich kraft der Erfahrung und Tierliebe des altgedienten Cowboys. Er lehrt Rafo das Reiten und lernt selbst vieles hinzu. Eastwood beschert seinem greisen Helden gar eine Romanze, was nicht ohne Eitelkeit inszeniert ist, aber doch den Anspruch einer glaubhaften Augenhöhe erfüllt. Während Mike ankommt, reichen Rafos Träume weiter. Sie könnten in Texas enttäuscht werden. Ein Macho muss er nicht mehr werden, aber genug Kraft und Energie hat er, um seine eigene Entscheidung zu treffen.

Info

Cry Macho Clint Eastwood USA 2021, 104 Minuten

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