Herrlich verdrossen

IM KINO Agnès Jaouis »Lust auf anderes« - eine Komödie mit Anteil nehmendem Blick auf Depressionen

Niemandem ist es aufgefallen, weder seinem Leibwächter noch dem Chauffeur, seiner Ehefrau ohnehin nicht, und leider auch nicht der Schauspielerin Claire, in die er sich verliebt hat: Monsieur Castella hat sich seinen Schnurrbart abrasiert. Verläuft sein Leben tatsächlich in so eingefahrenen Bahnen, dass ihm niemand mehr Mut zur Veränderung oder eine unerwartete Facette zutrauen würde? Oder erhofft er sich einfach nur zuviel, ein Privileg, denn wann schauen wir einander schon einmal wirklich an?

Agnès Jaouis' Regiedebüt ist ein Plädoyer für die Neugier, eine Ermunterung, sich auf andere Blickwinkel zu verstehen; ganz im Sinne des deutschen Titels, auch wenn das Original, Le Goût des Autres, noch weitere Bedeutungsebenen verspricht. Den phänomenalen Erfolg bei der französischen Kritik und vor allem an der Kinokasse mag man nicht wirklich überraschend nennen, denn immerhin sind Jaoui und ihr Partner Jean-Pierre Bacri als Schauspieler und Autoren hochkarätige Medienphänomene. Seit den César-gekrönten Drehbüchern zu Un Air de Famille (nach ihrem eigenen Bühnenstück) und zu Alain Resnais' Das Leben ist ein Chanson sind sie die gehätschelten Hoffnungsträger des espritvollen, auch sozial hintergründigen Unterhaltungsfilms. »Jabac«, wie sie die Branche mittlerweile liebevoll verballhornt, sind ihr eigenes Erzählsystem geworden. Ihr Terrain ist die depressive Komödie. Ihr Konstruktionsprinzip, dessen Gerüst auch im fertigen Film meist noch sichtbar bleibt, basiert zunächst auf einem Thema; erst später werden dem entsprechend die Figuren gestaltet. Die unverhofft aufkeimende Liebe des melancholischen Provinzfabrikanten Castella (Bacri, ein herrlich verdrossener Darsteller, spielt ihn selbst) zu der alternden Schauspielerin Claire (Anne Alvaro) wird in Lust auf Anderes zum Ausgangspunkt eines Mosaiks unterschiedlicher Geschichten und berührt ein stattliches Figurenensemble. Der Film knüpft an die »choralen« Filme Claude Sautets aus den Siebzigern an, in denen der Gruppenzusammenhalt nie über Einsamkeiten und Blessuren der Figuren hinweg täuscht, wohl aber eine Möglichkeit bietet, sie zu parieren.

Hier wird jedoch die Gruppe selbst problematisiert: Das Thema ist die Ausgrenzung, die Unvereinbarkeit paralleler sozialer Sphären. (Jaoui hat sich in der Rolle der Kellnerin und Gelegenheitsdealerin Manie besetzt, in deren Bistro diese kurzzeitig aufeinandertreffen.) Die elegante Kamerafahrt des Anfangs, die vom Tisch des Chauffeurs und des Leibwächters geschmeidig zu ihrem Chef führt - und sie eigentlich verbinden könnte -, misst vielmehr die Hierarchie aus und betont die soziale Differenz. Wie sehr Castella ein Gefangener des eigenen Milieus ist, belegt schon die doppelt symbolische Präsenz seines Leibwächters. Aber von dem Moment an, in dem der widerwillige Theaterbesucher von der Aura der Schauspielerin ergriffen wird, scheinen neue Gefühle und Lebensperspektiven denkbar, werden die tausend kleinen Ausweglosigkeiten des Alltags sacht außer Kraft gesetzt.

Figurenzeichnung ist für Jaoui und Bacri zunächst ein Spiel mit dem Wiedererkennungswert von Konstellationen und Archetypen, die erst allmählich ein individuelles Innenleben bekommen. Sie spekulieren darauf, dass im Kino - und im Leben, zumal in der Provinz - der Blick der Anderen die Charaktere konstituiert. Den (und vor allem: dem oder der) Anderen zu gefallen, birgt auch das Risiko, die eigene Identität und den eigenen Geschmack preiszugeben; es sind die schönsten Momente des Films, in denen jemand Eigenständigkeit und Respekt für sich reklamiert. Auch anfangs verhöhnten Figuren wird eine unverhoffte Wendung (das Spiel mit den Variablen in Smoking / No Smoking wird dem Autorengespann gefallen haben) und Tiefe beschert: keine weltstürzenden Verwandlungen, sondern leichte atmosphärische Verschiebungen, die in eine gelöste Erzählhaltung übersetzt werden, bei der sich die Akteure nicht mechanisch in der Exposition, sondern vielmehr sukzessive offenbaren. Jede Szene antwortet auf die vorangegangene, Motive und kleine Rätsel lösen sich erst später, dann jedoch betont beiläufig, auf. Ein ernstes, heiteres Gewährenlassen hat sich mit Lust auf Anderes in das System Jabac eingenistet: sie betrachten ihre Charaktere zwar weiterhin mit amüsierter Distanz, aber sie ist anteilnehmender geworden.

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