Es bereitet beträchtliche Freude, in ihrer Gesellschaft zu sein. Die Bauern von Mêle-sur-Sarthe sind bodenständig, aber eine gewisse Aufgeschlossenheit ist ihnen durchaus zuzutrauen. Natürlich halten sie an den Gewissheiten der Vergangenheit fest, lehnen den Fortschritt aber nicht kategorisch ab. Normalerweise stellen sie sich die Zukunft als Fortsetzung der Gegenwart vor – würde ihnen diese nicht gerade aus den Händen gleiten.
Sie fühlen sich abgehängt: Mit den niedrigen Preisen, die Fleischimporte aus Deutschland und Rumänien erzielen, können sie nicht konkurrieren. Aber in Paris hört man nicht auf sie. Wie nur können sie ihrer Stimme Gewicht verleihen? Beim Anschauen von Ein Dorf zieht blank stellt sich ein sachter Argwohn ein, den man gerade erst bei Augenblicke – Gesichter einer Reise hegen konnte, Agnès Vardas Feldforschung im provinziellen Frankreich. Er ruht in der Frage, wie viele der einnehmenden Charaktere, die man vor der Kamera erlebt, wohl im letzten Frühjahr den Front National gewählt haben. Diese demografische Wahrscheinlichkeit trübt den zugeneigten Blick beider Filme jedoch nicht.
Von Parteipolitik ist in Philippe Le Guays Film ohnehin nicht die Rede. Falls es in dem kleinen Flecken in der Normandie eine Opposition geben sollte, tritt sie nicht in Erscheinung. Die Bürger können für sich selbst einstehen: mit vielstimmiger Wut und Verzweiflung. Bei der Wahl des Bürgermeisters haben sie, aus Gewohnheit wie aus Vertrauen, für Georges Balbuzard (François Cluzet ) gestimmt. Seither regiert er als Ein-Mann-Demokratie mit Instinkt, Loyalität und skeptischem Rückhalt. Für die Dorfbewohner ist er schlicht Balbu, einer von ihnen, ein Viehzüchter, der ihre Sorgen kennt und teilt. Aufopfernd trägt er dafür Sorge, dass Alltag und Zukunft gelingen. Er weiß, was die Politik der unmittelbaren Reichweite fordert. Erfolg und Scheitern bekommt er umgehend zu spüren. Die Schließung eines Betriebs zu verhindern und so 22 Arbeitsplätze zu retten, bedeutet für die Region ungeheuer viel. Im Gegenzug hält man ihm vor, dass der Supermarkt im Nebenort gebaut wurde, und ist taub für seinen Einwand, genau dafür hätten die Dorfbewohner doch gestimmt.
Nun ist ihre Existenz massiv bedroht. Eine Demonstration, die den Verkehr auf der Autobahn nach Paris lahmlegt, hat jedoch nicht die erhoffte mediale Ausstrahlung. Jetzt muss rasch ein anderer Weg gefunden werden, öffentliches Bewusstsein für die Misere zu schaffen. Es trifft sich, dass eines der Opfer der Autobahnblockade ein berühmter amerikanischer Fotograf (Toby Jones) ist, der nun die Schönheit der Landschaft entdeckt. Eine Weide, die von einer stattlichen Linde dominiert wird, hat es ihm besonders angetan. Dort will er sein Projekt realisieren, Hunderte von nackten Einheimischen in der Natur zu drapieren. Das verlangt enorme Überzeugungsarbeit, Balbu kennt die Schamhaftigkeit seiner Wähler.
Der Frühling als Komplize
Philippe Le Guay hat in der französischen Filmkomödie ein Motiv neu formuliert, das sonst ausschließlich romantisch konnotiert ist: die Verführung, das Umwerben. Dieser Erzählimpuls prägt bereits Molière auf dem Fahrrad (2013), wo zwei gegensätzliche Schauspielertemperamente umeinander buhlen. Balbus Versuche, die Einwohner zu der publicityträchtigen Entblößung zu animieren, stoßen auf heftigen Widerstand. Der Gedanke, an einer kollektiven Intimität teilzuhaben, schreckt sie ab; schließlich ist schon ihre wirtschaftliche Lage mit Scham besetzt. Aber Le Guay ist ein zuversichtlicher Erzähler; bei ihm hält das Leben noch andere Nuancen bereit. In der Aufbruchstimmung des Frühlings findet er einen diskreten Komplizen. Er schaut gern zu, wie Charaktere in den Bann eines ungeahnten Gefühls geraten, eine unverhoffte Freiheit in sich entdecken.
In Ein Dorf zieht blank, dessen Besetzung den Unterschied zwischen professionellen Schauspielern und Laien wundersam aufhebt, gewährt er diese Erfahrung einem ausgreifenden Ensemble von Figuren. Darunter ist ein heimkehrender Sohn, der das Fotogeschäft des verstorbenen Vaters auflösen will und dabei eine neue, romantische Verwurzelung erlebt. Der gefeierte Fotograf, den Jones mit empfänglicher Fremdheit spielt, tollt durch die bukolische Idylle wie ein verlorenes Kind, das sich als Künstler gefunden hat. Sein Besuch im Fotogeschäft ist eine zauberhafte Begegnung zweier Welten, zumal im Nachlass des Vaters die Würde des Handwerks fotografischer Alltagszeugenschaft aufleuchtet. Einen eifersüchtigen Metzger wiederum verstört die Vorstellung zutiefst, seine Frau, vor Jahrzehnten eine lokale Schönheitskönigin, könne sich nackt zeigen. Grégory Gadebois trifft wunderbar dessen Stille, die explodieren wird.
Leider fügt Le Guay dieser Polyphonie den altklugen Off-Kommentar der Tochter eines Pariser Ehepaars hinzu, die das Provinzleben hasst. Ihre Außenperspektive hat den Vorzug, sporadisch Einspruch zu erheben gegen das malerische Pastoral. Als erbitterte Gegnerin der Viehzucht müsste sie ihren Regisseur eigentlich in eine Debatte über deren Für und Wider verstricken. Doch da obsiegt dessen Harmoniebedürfnis, das für einmal sein abwägendes Zuvorkommen in Unschlüssigkeit verwandelt.
Ein Dorf zieht blank Philippe Le Guay Frankreich 2018, 105 Min.
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