Merkels Neujahrsansprache

Ein Veriss In ihrer Neujahrsansprache lässt Merkel die Welt in Einzelteile zerfallen. Doch die Fragmente gehören zusammen. Merkel übt sich in der Rhetorik des Spaltens.

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Neujahr liegt jetzt fast zwei Wochen zurück. Doch schon dieser geringe zeitliche Abstand hat der Rede Merkels zusätzliche Fakten hinzugefügt, die meine Kritik untermauern.
Ich war zunächst wie gelähmt durch dieses dumpfe Denken, das hier sichtbar wurde. Diese Ansprache war ein niederschmetterndes Dokument der Verzerrung, Verhetzung und Klitterung. Ein Dokument der politischen Verwahrlosung und der Heuchelei. Eine Rede, die darauf abzielt, Europa und die Deutschland zu spalten.
Ich werde einige Passagen, die ich für zentral halte, kommentieren. Ich behalte die chronologische Abfolge der Rede bei.
Fangen wir an:

“Es war das Jahr, in dem wir in Europa in lange nicht gekannter Härte erfahren haben, was es bedeutet, wenn Grundlagen unserer europäischen Friedensordnung infrage gestellt werden – also die freie Selbstbestimmung der Völker. Genau das mutet Russland der Ukraine zu.”

Schon diese Sätze nach der Einleitung sind nicht nur fragwürdig, sondern verkehren die Tatsachen in ihr Gegenteil. Es ist nicht Russland, dass der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung aberkennt. Es waren vielmehr die Akteure des Westens, die die Ukraine unter den Druck eines Entweder-Oder gesetzt haben. Die Geschichte des Konflikts zwischen Russland einerseits und der NATO, der Europäischen Union und den USA andererseits bei der Abspaltung der Krim anzusetzen, kommt einer Leistungsverweigerung des Denkens gleich. Für Leistungsverweigerung gibt es in der Schule die Note sechs. Das muss in der Politik auch gelten. Merkel verweigert, Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Selbst wenn es sich, was äußert fragwürdig ist, bei der Abspaltung der Krim und deren Angliederung an Russland um eine Annexion und nicht um die freie Selbstbestimmung der Völker, sprich eine Sezession gehandelt haben sollte, wäre dies nicht das erste Mal, dass dies die europäische Friedensordnung infrage stellt.
Der wirklich erste Verstoß gegen die europäische Friedensordnung ist der Europäischen Union und damit Deutschland selbst anzulasten. Mit der Annexion des Kosovo hat die EU einen Präzedenzfall geschaffen. Dass es sich beim Vorgehen im Kosovo um einenvölkerrechtswidrigen Akt handelt, gibt inzwischen sogar der damals verantwortliche Kanzler Schröder zu.
Es ist reine Heuchelei, wenn Merkel diesen Sachverhalt übergeht, um mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Russland zu deuten.

Es steht völlig außer Frage, dass wir Sicherheit in Europa gemeinsam mit Russland wollen, nicht gegen Russland.

Genau das steht sehr wohl infrage. Nahezu alles, was die Bundesregierung tut, dient der Eskalation des Konflikts. Es sind noch keine zwei Wochen seit der Äußerung Merkels vergangen, Sicherheit gebe es in Europa nur mit Russland, da garantiert Deutschland der Ukraine einen Kredit für die sich der Ministerpräsident der Ukraine Jazenjuk beim deutschen Steuerzahler bedankt und unwidersprochen in den tagesthemen etwas Geschichtsverdrehung betreibt, indem er auf den zweiten Weltkrieg verweist und meint, Deutschland müsse gemeinsam mit der Ukraine dem Anmarsch der russischen Armee widerstehen. Die Rote Armee hat Deutschland nicht überfallen, sondern vom Faschismus befreit, nachdem Nazideutschland Russland überfallen und dort Millionen Menschen ermordet hatte.
Mit einer Kreditzusage von 500 Millionen Euro finanzieren wir einen Bürgerkrieg, Mord am eigenen Volk und dürfen uns dafür noch etwas Zynismus von einem an die Macht geputschten Rechtsaußen anhören. Danke Frau Merkel!
Doch weiter im Text:

Aber ebenso steht völlig außer Frage, dass Europa ein angebliches Recht eines Stärkeren, der das Völkerrecht missachtet, nicht akzeptieren kann und nicht akzeptieren wird. (…) Deshalb war 2014 auch das Jahr, in dem Europa genau diese Herausforderung verstanden und gemeinsam mit seinen transatlantischen Partnern angenommen hat. Europa hat sich entschlossen, sich nicht spalten zu lassen, sondern stärker denn je als Einheit zu handeln, um seine Friedensordnung und seine Werte zu verteidigen. Werte, die Europas Zukunft als Ganzes und die seiner Mitgliedstaaten politisch wie im Übrigen auch wirtschaftlich tragen.

Merkel entwirft hier, und man sollte genau überlegen, ob man das mittragen möchte, ein Europa, das Russland ausschließt. In der merkelschen Geographie erstreckt sich Europa nicht vom Atlantik bis zum Ural, sondern lediglich bis zu den Grenzen der Europäischen Union. Sie bindet Europa an die transatlantischen Partner. Gemeint sind damit wohl weniger Kanada als vielmehr die USA.
Bei der Anbindung an die USA über den Begriff der gemeinsamen Werte wird allerdings unterschlagen, dass so gemeinsam unsere Werte nicht sind.
Ganz unabhängig von Guantanamo, Folter, Todesstrafe und Massenüberwachung fehlt schon in der amerikanischen Verfassung ein zentraler Wert, der für Europa, ganz Europa inklusive Russland maßgeblich ist.
Der Wert der Solidarität ist in Europa sehr wohl, in den USA aber keineswegs von zentraler Bedeutung. Man mag über die Sowjetunion und den real existierenden Sozialismus sagen was man will, dass er mit seinen Wurzeln aber die Idee der Solidarität und des Sozialen umfasst, lässt sich auf für stramme Antikommunisten nicht leugnen.
Russland ist uns mit seiner Geschichte, möchte man eine Wertediskussion wirklich führen, hier deutlich näher als die USA. Europäische Werte ohne Russland zu denken ist unmöglich, sie ohne die USA zu denken, funktioniert sehr wohl.
Es gilt daher genau zu überlegen, zu welchem Partner man sich bekennt, wenn man denn überhaupt meint, es mit Ausschließlichkeit zu tun zu haben.
Merkel bemerkt ganz richtig, dass uns unserer Werte, die eben auch den Wert der Solidarität umfassen, uns auch wirtschaftlich tragen. Tragen würden, muss man sagen. Doch dazu muss man den durch und durch unsolidarischen Austeritätskurs aufgeben. Dann würde der Satz auch wieder Sinn machen, der jetzt so merkwürdig verschroben in der Rede steht und mehr einer Drohung gleicht.
Schließlich ist das, was Merkel wirtschaftspolitisch den europäischen Partnern zumutet eine Katastrophe; menschenverachtend und das europäische Projekt gefährdend, weil es zutiefst spaltet.
Diesen Vorwurf der Spaltung macht Merkel in Verkehrung von Ursache und Wirkung einige Sätze später der Pegida-Bewegung.
Zuvor spricht Merkel über Ebola und den Islamischen Staat (IS). In Merkels Welt kommen diese Plagen einfach so über uns. Sind Schicksalsschläge, gegen die wir anstehen müssen.
Merkel verweigert auch hier, Zusammenhänge zu sehen.
Deutschland verpasst seit Jahren das gesteckte Ziel von 0,7% des BIP für die Entwicklungshilfe auszugeben. Gerade mal die Hälfte ist es im vergangenen Jahr geworden. Ob das wenige Geld dann immer auch noch sinnvoll eingesetzt wird, diese Diskussion will ich an dieser Stelle gar nicht ausführlich führen. Es gibt da zahlreiche Kritikpunkte. Ein zentraler Punkt sei hier nur stellvertretend genannt: Das, was eine aggressive deutsche Wirtschaftspolitik zerstört, wird durch die Entwicklungsgelder auch nicht im Ansatz kompensiert.
Ebenso ist der IS in keiner Weise einfach so vom Himmel gefallen. Eine Geopolitik, die Chaos verbreitet, die ganze Regionen destabilisiert, ist geradezu die perfekte Bedingung, radikale Bewegungen wachsen zu lassen. Der IS ist zunächst Kind des Westens, muss man sich zur Schande eingestehen, nicht ein Kind der islamischen Kultur.
Doch Merkel verweigert nicht nur, hier einen Zusammenhang zu sehen. Sie instrumentalisiert das vom Westen angerichtete Leid und Chaos auch noch.

Eine Folge dieser Kriege und Krisen ist, dass es weltweit so viele Flüchtlinge gibt wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele sind buchstäblich dem Tod entronnen. Es ist selbstverständlich, dass wir ihnen helfen und Menschen aufnehmen, die bei uns Zuflucht suchen. (…) Heute rufen manche montags wieder “Wir sind das Volk”. Aber tatsächlich meinen Sie: Ihr gehört nicht dazu – wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion.
Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen! Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen!

Die Kriege und Krisen, mit denen es wir aktuell zu tun haben, gehen im wesentlichen auf das Konto des Westens. Die Flüchtlingsströme, gegen die hier in Deutschland protestiert wird, haben wir selbst verursacht. Kluge und weitsichtige Politik würde hier ansetzen; Merkel tut genau das nicht.
So wenig Verständnis ich für die oftmals sehr schlichten Positionen der Pegida-Teilnehmer habe, so wenig Verständnis habe ich für eine Politik, die ihre Folgen nicht mitbedenkt. IS und Pegida sind die Kehrseite derselben Medaille. Sie sind das Ergebnis einer ausschließlich auf Wachstum und Gewinn ausgerichteten Politik, die den Einzelnen den Regeln des Marktes preis- und jeden politischen Gestaltungswillen zugunsten eines ökonomischen Totalitarismusses aufgibt.
Merkel redet sich ins Wahnhafte, wenn sie meint:

Wir spüren, welchen Wert es hat, wenn die Zahl der Menschen, die Arbeit haben, so hoch ist wie noch nie oder wenn wir im kommenden Jahr das erste Mal seit 46 Jahren keine neuen Schulden im Bund aufnehmen müssen und Schluss machen können mit dem Leben auf Pump.
Wir spüren, welchen Wert der Zusammenhalt in unserem Land hat. Er ist Grundlage unseres Erfolges.

Wir spüren nämlich genau das nicht! Wir spüren den in den Medien so viel gerühmten wirtschaftlichen Aufschwung nicht. Er kommt nur im DAX aber nicht bei den Menschen an. Wir sehen, wie die öffentliche Daseinsvorsorge preisgegeben wird, wie Straßen bröckeln, wie Schulen verfallen, wie Gewinne privatisiert und in zunehmenden Maße Verluste der Gemeinschaft aufgebürdet werden.
Die Bankenkrise, die unter anderem von Merkel durch die Bankenrettung absichtsvoll zu einer Krise der Eurozone im wahrsten Sinne des Wortes umgebucht wurde, ist hierfür bestdokumentiertes Beispiel.
Wir spüren eben keinen Zusammenhalt, sondern nur noch Konkurrenz, absichtsvoll und gegen alle Notwendigkeit hergestellte Konkurrenz. Konkurrenz zwischen Menschen, Gruppen, Institutionen und Nationen um künstlich verknappte Güter, knappe Arbeit, knappe Hilfsgelder, knappe Solidarität. Die Wirtschaftideologie, der Merkel anhängt und die sie gegen alle Widerstände in Europa durchdrückt, trägt hierfür die Schuld.

Aus dem ergibt sich aber auch, welche Rede ich mir gewünscht hätte.
Ich hätte gerne gehört, dass sie nach mehreren Jahren Austeritätspolitik zu der Erkenntnis gekommen ist, dass diese Politik Europa schadet, sie das daher korrigieren muss, bevor es zu spät ist.
Ich hätte gern von ihr gehört, dass unsere Waffenlieferungen in Krisengebiete, die Krisen dort verschärfen, wir daher damit aufhören.
Ich hätte gern von ihr gehört, dass sie zur Kenntnis nimmt, dass große Teile der Bevölkerung Abstiegsängste haben, die durchaus berechtig sind, sie daher von weiteren neoliberalen Projekten wie TTIP und TISA absieht und Politik wieder zu einem Gestaltungsinstrument macht, das den Bürgern dient, indem es sie unter anderem vor den rigorosen Mechanismen der reinen Märkte schützt.
Ich hätte gern von ihr gehört, dass wir nicht weiter Gruppen ausschließen, dass Integration nicht nur eine Bringschuld ist, dass wir den Ehrgeiz haben müssen, in authentischer gelebter Weise zu zeigen, dass eine Existenz in einem freien, solidarischen Europa lohnenswerter und lebenswerter ist, als der Kampf für Religion und Ideologie.
Zudem hätte ich gerne gehört, dass sie Verständnis für das Gefühl der Bedrohung Russlands hat, sie sich daher für eine Aufnahme Russlands in die NATO und für verstärkte (Handels-)Beziehungen einsetzt. Eine Finanzierung des Bürgerkriegs in der Ukraine hätte sie dann in der Folge wohl auch unterlassen.
Ich hätte mir gewünscht, sie hätte an unseren transatlantischen Partner, die USA adressiert, dass dort im Hinblick auf Bürger- und Freiheitsrechte gerade viel im Argen liegt, man sich daher in aller Deutlichkeit von Massenüberwachung, Folter, Todesstrafe, Polizeigewalt, Rassismus und extralegalen Tötungen und Gefängnissen wie Guantanamo nicht nur distanziert, sondern deutlich macht, dass dies gegen unsere europäischen Werte verstößt.

All das hätte ich für eine gute Rede gehalten. Aber gute Reden werde ich von dieser Kanzlerin vermutlich nicht hören, denn sie betreibt eine Politik gegen die Interessen der Bürger, nicht nur der deutschen, auch der europäischen und der Bürger in allen Krisengebieten der Welt.

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