„Antiamerikanismus“, der westliche Wertekanon und „abgestreifte ethische Sensibilität“

Bellizismus Ein Seitenblick auf einen Kommentar in der linken italienischen Zeitung "il manifesto", in dem dortige intellektuelle Kriegslegitimation kritisiert wird.

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Kriegszeiten erfordern ein ganzes Arsenal an Ideologien. Es muss viel geredet werden, dass über das Wesentliche gerade nicht gesprochen wird. Von Geostrategie, Kampf um Hegemonie, Rohstoffen oder gar den Profiten von Einzelkapitalen wie Rheinmetall soll besser geschwiegen werden. Für jeden Krieg finden sich passende intellektuelle Stimmen, die das staatliche Töten mit höheren Weihen versehen wollen. Nicht wenige entstammen hierzulande der Linken. Bereits zum Golfkrieg 1991, der vielleicht den äußeren Rahmen einer kriegerischen Ära absteckte, die als postsowjetisch zu bezeichnen ist, fanden sich bekannte Stimmen aus der Linken, die den US-Krieg gegen Saddam Husseins Irak mit allerhand ethischer Legitimationskraft ausstatteten. Der Golfkrieg sollte ein wundervoller Krieg - wahlweise - für globale Rechtssicherheit, gegen einen Hitlergleichen Despoten, gegen die Bedrohung Israels oder eine wertegeleitete Weltordnung sein. Damals bezog sich der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth auf die französische Historikerschule der "Annales", die sich der Strukturgeschichte und einem materialistischen Forschungsansatz verschrieben hatte und mit deren Hilfe die hochgradig idealistische und ideologische Geschichtserzählung zurückgewiesen werden kann.

Zum 80. Geburtstag von Karl Heinz Roth wurde dieser über 30 Jahre alte Aufsatz, der einiges an Aktualität beinhaltet, in einer Roth gewidmeten Festschrift dankenswerterweise wiederveröffentlicht. Damals erschien der Kommentar in der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift 1999.

In Italien erinnert ein Autor der Tageszeitung il manifesto interessanterweise in der Auseinandersetzung mit aktuellen Kriegslegitimationen den Ukraine-Krieg betreffend ebenfalls an die Strukturgeschichte von Marc Bloch und anderen:

„Antiamerikanismus“, der westliche Wertekanon und „abgestreifte ethische Sensibilität“

von Paolo Favilli, il manifesto, 22. März 2023

https://ilmanifesto.it/antiamericanismo-questione-di-valori-e-di-mutata-sensibilita-etica

(eigene Übersetzung)

In den letzten Wochen hat il Corriere della Sera das Bedürfnis verspürt, das ukrainische Gemetzel dadurch mit höheren Weihen zu versehen, indem man den Ton, der im Kampf der Kulturen angeschlagen wird, weiter verschärft. So mussten wir lesen, dass es sich bei dem, was in der Ukraine ausgefochten wird, um einen Krieg zwischen den „westlichen Mächten“ als Statthalter einer „Philosophie der Freiheit“ und der „östlichen“ als Verkörperung einer „Philosophie des Despotismus“ handelt. Welch Verherrlichung der NATO, die mit dem von Hegel beschworenen reitenden Weltgeist identifiziert wird! Wahrlich eine zielführende philosophische Hintertreppe.

Dann haben wir gelesen, dass die KritikerInnen dieser Darstellung von einem Antiamerikanismus durchdrungen sind, der das „Wertesystem“ nicht berücksichtigt, welches in america ganz wesenhaft Fleisch geworden sei, welches darum wohl wirklich first zu sein hat.

Der Zugriff auf „Rohstoffe“, die Kontrolle über die internationalen Wertschöpfungsketten, einzig wahre und stabile „Werte“ für das Gedeihen des „westlichen Gartens“ (L. Kamel, il manifesto vom 5. März), sind nicht der Rede wert, wenn es um den Kampf zwischen Gut und Böse geht.

Und schließlich vernehmen wir, dass der Widerstand gegen die Interventionspolitik der NATO in der Ukraine aus fehlender Empathie, „abgestreifter ethischer Sensibilität“ und „mangelnder Nächstenliebe“ resultiere. Ein weiterer Schritt auf der philosophischen Hintertreppe.

Wer die historische Literatur über die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse rund um den Ersten Weltkrieg kennt, die Art und Weise, wie dieser publizistisch und nicht nur in den Schützengräben ausgefochten wurde, erkennt in der inflationären Verbreitung der hochtönenden Worte, die den oben genannten Axiomen folgen, eine Atmosphäre wieder, die bereits das Klima prägte, das vor der Katastrophe herrschte, die das 20. Jahrhundert einläutete.

Verständnis für Entstehung und Dynamik des Ersten Weltkriegs finden wir an jenen Orten der Literatur, welche mittels ambitionierten Analysen des Imperialismus (Hobson, Hilferding, Luxemburg...) die damaligen Konfigurationen erhellen und ihr Wirken von neuem bestätigen.

Sie zeigen die wechselseitigen Beziehung zwischen den Nationalismen auf ihren neuen Mikro- und alten Makroebene auf und die widersprüchlichen Tendenzen zwischen den Akkumulationsmodi der verschiedenen Kapitalismen. Wie Ernest Labrousse es ausdrückte, zwischen Konjunktur und Struktur. Schließlich ist dies die einzig ernsthafte Methode, um Verständnis des aktuellen Geschehens, auch in seiner politischen Form, zu gewinnen.

Just nach dem österreichisch-ungarischen Einmarsch in Serbien, der die Katastrophe ausgelöst hat, haben ideologische Rechtfertigungen die Öffentlichkeit aller beteiligten Mächte beherrscht.

Da griff man auf das Empyreum der großen und edlen Ideale zurück: Frankreich berief sich auf die Verteidigung seiner vom deutschen Militarismus bedrohten Zivilisation. Deutschland strengte die Verteidigung seiner Kultur an, die im Westen durch die französische Zivilisation und im Osten durch die asiatische Barbarei Russlands bedroht sei. Russland verteidigte wiederum seine slawisch-orthodoxe Besonderheit, die der Pangermanismus ernsthaft gefährde. Die Heterogenität der Allianzen ist ein klarer Beweis für den rein propagandistischen Charakter des Rückgriffs auf moralische oder abstrakte kulturelle Kategorien. Und Propaganda wird zu einem wesentlichen Antreiber des Kriegsgeschehens.

Marc Bloch, der Mann, der im Pantheon der Historiker des 20. Jahrhunderts meines Erachtens den ersten Platz einnimmt, dachte bereits 1921 über die Logik der Propaganda und die Produktion und Verbreitung von Falschmeldungen im Krieg nach. „In dieser Angelegenheit“, behauptete er, „stammen die wirklich wertvollen Beobachtungen von jenen Menschen, die sich kritischer Methoden befleißigen und daran gewöhnt sind, gesellschaftliche Probleme zu erforschen“.

Kritik als grundlegende Funktion des Verstehens, Kritik als begrifflich-analytisches Instrumentarium, das dicht mit der Geschichte und der jeweiligen Besonderheit des Untersuchungsgegenstands verwoben ist, ist Kritik, die notwendigerweise eine praktisch-transformative Dimension aufweist.

Kritik als zentrales Moment ist eines der konstitutiven Aspekte der „westlichen“ Tradition. Darin wird in der Tat erkennbar, dass es keinen einheitlichen „Westen“ gibt.

Die Kritik der politischen Ökonomie, d.h. die Analyse der Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise, wird in den Leitartikeln von Il Corriere gleichgesetzt mit „der Kritik oder sogar der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie“, welche zugleich „als ideales politisches System für die kapitalistische Entwicklung“ bezeichnet wird.

Man käme zu einem peinlichen Ergebnis, wolle man diese Aussagen mit der Realität des historischen Prozesses abgleichen - bis zu unserer heutigen Gegenwart.

Verständnis eines Krieges, dessen spannungsreiche Vorgeschichte eine differenzierte zeitliche und räumliche Dimension aufweist und der globale Bedeutung hat, ist nur dann zu gewinnen, wenn man jene Form untersucht, die die Imperialismen (inklusive des russischen) nach der Auflösung der UdSSR angenommen haben.

Einer der Redakteure des Corriere, der sich aktuell am vehementesten der Rhetorik des „Kampfes der Werte“ verschrieben hat, hatte vor langer Zeit, als er sich noch ganz dem „Beruf des Historikers“ widmete, argumentiert, dass die durch den Imperialismus gekennzeichnete Aktualität nicht erklärt werden könne, indem man sich auf „Prozesse wesentlich politisch-ideologischer Natur" konzentriere, sondern, dass es notwendig sei, den Fokus der Untersuchung auf den „untrennbaren Nexus Kapitalismus-Imperialismus“ zu lenken.

Und er gab selbst ein Beispiel für diese Methode in Form seiner Studie, die nach wie vor zu den besten über eine wesentliche Komponente des italienischen Imperialismus gehört: eine genaue empirische Untersuchung über die Gründung der italienischen Diskontbank.

Heute jedoch scheint ihm wieder der Rückgriff auf ethisch-politische Kategorien passender zu sein.

Marc Bloch würde sehr streng mit denjenigen verfahren, die als akademisch ausgebildete Historiker die Gegenwart mit Kategorien erklären, die dem Oberflächenschaum politischer Entscheidungen entstammen.

(Paolo Favilli, il manifesto, 22. März 2023)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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